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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Winterreise

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Nebelstreiflicht, wo bist Du? Hier ist es so kalt.

Tief tauchen meine Gedanken in die kleinen unschuldigen Augen, die sich nur blass hinter der Fensterscheibe abzeichnen. Es ist, als würde ich in meine eigene Seele eindringen, in eine Parallelwelt, die ist, wie ich - durch ein weiteres Fenster in die jetzt gelebte Vergangenheit.

Ich sehe: das Gesicht des Jungen ist bleich und ausdruckslos, vielleicht liegt auch eine ungewisse Angst auf ihm oder ein verborgener Schrecken. Er schaut ins Nichts, ist ganz weit weg und immer schon in einem anderen Universum, wo ich ihn wiedertreffe, aber er weiß es noch nicht, kann meine Existenz nicht erahnen, lebt nur für sich und teilt seine Gedanken nicht mit anderen Menschen. Er gleicht einem Gott und doch ist er mehr als das, was dieses Wort bezeichnet. Die Sprache reicht nicht aus, um dieses tragische kleine Wesen zu beschreiben - und trotzdem versuche ich es hier mit diesen Zeilen.

Neben dem Gesicht des Jungen erscheint plötzlich der bereits durch den unaufhaltsamen körperlichen Verfall gekennzeichnete Kopf eines Mannes. Wenn der Junge das Licht ist, so ist dieser Mensch der Schatten. Er kennt keine Schönheit, das Trümmerfeld ist seine Heimat und das Massengrab sein Olymp. Seine schwarzen Augen sind ein blutlüsternes Geschwistermörderpaar - und schon sind sie wie tiefgefrorene Dolche auf den ahnungslosen Jungen gerichtet.

Der Junge erschaudert und auch mich packt die Kälte, die mich wie einstürzender Beton erschlagen will. Da ist nichts, was ich tun könnte. Traurig winke ich dem armen Geschöpf zu. Es sieht mich nicht und ist vielleicht schon in seinem eigenen Himmel angekommen. Ganz allein.

Dann ertönt unweigerlich der schrille Ton einer Pfeife und der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Rollende Räder auf Schicksalgleisen, ohnmächtig sehe ich zu, wie sie sich ratternd entfernen, immer weiter weg von mir und schon bald werden sie in der Endstation mit hirnzerreißendem Folterquietschen zum finalen Stillstand kommen.

Und die gemeinen Mörder warten schon.

© 2000 by Arne-Wigand Baganz

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