"Normen?", lässt Stefan Heym (1913-2001) in seinem Roman "5 Tage im Juni"
einen Arbeiter ausrufen - "Laßt mich bloß damit in Ruhe!". Die Erhöhung der Normen, vom Zentralkommitee der SED im Mai 1953
beschlossen und vom Ministerrat zum Ende des selben Monats bestätigt, war
der Anstoß für den sogenannten "Volksaufstand in der DDR", der
schließlich am 17. Juni 1953 in republikweiten Streiks, Demonstrationen
und seiner Niederschlagung durch die Rote Armee kulminierte. Dieser
Aufstand bildet den historischen Hintergrund, vor dem Heym die Geschichte
des Genossen und Gewerkschafters Witte, tätig im Berliner VEB Merkur,
erzählt. Witte ist ein überzeugter, ehrlicher Kommunist, in vielen
Prüfungen organisch gewachsen - kein opportunistischer Karrierist. Für
Witte ist sicher, dass es "doch einen Sinn [...] in der Weltgeschichte" geben muss - ganz, wie es die Lehre vom historischen Materialismus
(Histomat), entwickelt von Karl Marx und Friedrich Engels, verkündet: die
Überwindung des Kapitalismus und der Aufbau des Kommunismus über die
Zwischenstufe des Sozialismus, die Erreichung immer höherer
Entwicklungsstufen in der Geschichte der Menschheit. So weit die abstrakte,
leuchtende Theorie, die Praxis aber: Der aktuelle Unmut der Arbeiter im VEB
Merkur, erregt durch die Verkündung der Normerhöhungen; damit verbunden:
Die schmerzhafte Einsicht, als Arbeiter wohl doch immer nur Mitglied einer
ausgebeuteten Klasse zu sein, ob im Kapitalismus oder Sozialismus. Mit Heym
begleitet der Leser den Genossen Witte vom 13. Juni bis zum Ende des 17.
Juni 1953. Er sieht, wie sich die gesellschaftlichen Widersprüche
verschärfen und sich ihr Aufbrechen doch nicht mehr verhindern lässt. Witte
erkennt:
"Wir haben zu wenig darüber nachgedacht [...], daß sich auch
Widersprüche entwickeln können zwischen der Masse der Arbeiter und ihrem
Vortrupp, der Partei. In einem solchen Fall gerät alles in Gefahr, und auch
der Feind hakt ein."
Heym hat sein Buch mit Ausschnitten aus Originalquellen (Parteibeschlüsse,
Zeitungsartikel, Radiosendungen) garniert und in ihm stellenweise mit
szenischen Dialogen sowie inneren Monologen experimentiert. Das ist der
lange Schatten des in der DDR selbstverständlich verpönten
Extremformalisten James Joyce. Vielleicht ein zusätzliches Zeichen des
Protests, von Heym gesetzt. Der Roman jedoch gewinnt und verliert dadurch
nichts. Ein Schriftsteller wendet solche Techniken an, weil er sie anwenden
kann...
Wer sich für die Geschichte der DDR interessiert, dem kann Heyms Roman
empfohlen werden - das Buch ist selbst ein Teil von ihr geworden. Natürlich
kann es keine historiographischen Arbeiten ersetzen, allerdings vermittelt
es ein sehr lebendiges und authentisch erscheinendes Bild der Geschehnisse
um den 17. Juni 1953 - gezeichnet von einem kritischen DDR-Bürger, der auch
nach der Wende seine Ideale nicht verraten hat.