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Beyond Belief

Colm O Gorman

Sexueller Kindesmissbrauch: Das ist immer Verbrechen, meist gefolgt von Schweigen. Wenn wir das Verbrechen "[...] unsichtbar machen oder geheimhalten können, dann müssen wir uns nicht damit beschäftigen." - so glauben wir, glaubt der Ire Colm O´Gorman. Aber dieses Schweigen hat Opfer. Worüber O´Gorman als Autor nicht mehr schweigt, ist, worüber er in "Beyond belief" schreibt - das hat er selbst erfahren: den Missbrauch in seiner Kindheit und Jugend, vor allem durch den römisch-katholischen Provinz-Priester Seán Fortune, der sich 1999, in Gerichtsverhandlungen verwickelt, aller Verantwortung entzog und suizidierte. Gegen ihn standen 66 Anklagepunkte bezüglich sexuellen Missbrauchs an 29 Jungen. Die Kirche hat ihn - wie so viele andere perverse Übeltäter - über Jahre gedeckt; sie hat sich im Unsichtbarmachen und Geheimhalten geübt und so mitverschuldet, dass weitere Kinder geopfert wurden, obwohl längst konkrete Beschwerden vorlagen. Was haben die Opfer heute davon, wenn sich der katholische Oberhirte wenigstens zu entschuldigenden Worten hinreißen lässt? Eine solche Kirche ist wahrhaft "Beyond belief"...

Colm O´Gorman hätte ein gewöhnlicher irischer Junge seiner Zeit sein können. Aber schon, als er etwa fünf Jahre alt war, zogen sich die dunklen Wolken der Perversion über ihm zusammen, um ihn in einem Missbrauchsgewitter zu zerreißen. Seine Erinnerungen sind vage. Was versteht ein Kind in solchen Situationen davon, was mit ihm geschieht? Es kann es noch nicht verstehen, es hat keine Worte, um davon zu sprechen. Es wird aus diesem Universum gestoßen, um als Gespenst wiederzukehren... Wer sieht dann dieses Kind, wie es leidet? Wer kann seine stummen Schreie hören? Zu oft: Niemand!

Bald dreißig Jahre nach dem ersten Missbrauch erinnert sich O´Gormans Mutter: "... Du warst (an diesem Tag, Anm.) so verängstigt, so bleich und geschockt" - "das muss gewesen sein, als es Dir das erste Mal geschah.". Aber es war damals, als hätte sie nichts gesehen, als wäre die Welt heil - vielleicht nur, weil sie es sein musste. Und so blieb ihr Kind ohne Hilfe.

O´Gorman beschreibt die Mechanismen des Missbrauchs: Hilfe war das Wort, in das Seán Fortune seine Taten kleidete. Fortune hilft O´Gorman... Diese Hilfe ist ein Auslöschen, eine Verkehrung der Wörter, Bedeutungen - eine bösartige, existentielle Verwirrung. Er degradiert den Jungen zu einem Objekt, das er seinem kranken Willen wieder und wieder unterwirft. Er benutzt und beschädigt ihn. Und als er ihm zu alt (er war um die 17 Jahre) und dick geworden ist, bietet er ihm Geld, ihm einen Jüngeren zuzuführen, damit er auch diesen als Objekt benutzen und beschädigen kann.

An diesem Punkt beginnt die wahre Odyssee des O´Gorman. Wie findet sich ein Mensch, dem so viel Schaden zugefügt worden ist, im Leben zurecht? Wenn er nicht in den Abgründen, in die er gestürzt wurde, umkommt - was kann er tun, um sich seine Existenz zurück zu erobern? Als junger Erwachsener landet O´Gorman auf der Straße: er und das Schicksal wollen es, dass er dort nicht bleibt. Er kämpft, er ordnet, er entdeckt sich und seinen Mitmenschen seine Vergangenheit, ihm gelingen glückliche Beziehungen, er verklagt die katholische Kirche, gründet einen bedeutend werdenden Verein gegen Kindesmissbrauch, arbeitet als Therapeut und ist inzwischen Leiter von Amnesty International in Irland. Er scheint fast wie ein Boddhisattva aus der buddhistischen Lehre, der sich dem Wohl aller mitfühlenden Wesen verschrieben hat (der Mönch Thich Nhat Hanh spricht in einem seiner Werke explizit davon, dass es Missbrauchsopfer gibt, die sich diesem Idealtypus annähern). Wie in einer beethovenschen Symphonie geht es durch Nacht zum Licht.

O´Gorman trägt schwere Wunden, aber er hat es - hoffentlich - geschafft, zu einem Leben zu finden, dass nicht allein von ihnen auf negative Weise beherrscht wird. Wie viele schaffen es nicht, verstecken sich als Recluse, bringen sich um, vergehen in Substanzabhängigkeiten?

Wir können von O´Gorman lernen, nicht wegzuschauen, nicht zu schweigen - und unbeugsam für die Wahrheit zu kämpfen, denn sexueller Kindesmissbrauch findet überall statt. In der Familie, in der Kirche, im Kindergarten, im Krankenhaus, in der Schule... Überall, zu jeder Zeit.

Diese Verbrechen müssen aufgedeckt und bestraft werden - diese Verbrechen dürfen nicht verjähren.

Und so schließe ich mich gern O´Gormans Ausgangszitat an:
Fiat justitia ruat caelum.

Colm O´Gorman: Beyond belief.
London, 2009.
ISBN 978-0-340-92528-7

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2010-06-23)

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