Eine Göttin der Oper hat sich in einen der Massenkultur dienenden Roboter
verwandelt, „die Show zählt, auf das Bisnes kommt es an“ (S. 24), am Straßenrand sitzen die jungen Leute auf Kilometerlänge mit
ihren Plakaten „Suche Arbeit!“, die Vertreter der Religionen verteilen
wieder freizügig ihr Opium, die Bauern können sich von der Landwirtschaft
nicht mehr ernähren und organisieren im Gebirge Jagdtouren für die Reichen,
die Oligarchen vergnügen sich in ihren bourgeoisen Clubs und haben das Land
fest im Griff: So stellt sich das post-sowjetische Kirgisistan im zweiten
Jahrtausend unserer Zeitrechnung in Tschingis Aitmatows neuem Roman „Der
Schneeleopard“ (2006) dar.
Zwei Verlierer-Helden stehen in seinem Zentrum: Zum einen der alternde
Schneeleopard Dschaa-Bars, welcher von seinem Rudel verstoßen wurde und das
Leben eines Paria führt, zum anderen der unabhängige Journalist Arsen
Samantschin. Er ist die menschliche Parallelfigur des Schneeleoparden.
Arsens Aufstieg begann in der Zeit der Perestroika, als Journalisten
endlich wieder die Freiheit der Kritik genießen konnten, die Lenin schon
lange vor der Oktoberrevolution in seinem Werk „Was tun? Brennende Fragen
unserer Bewegung.“ (1902) gegeißelt und dann nach der Machtergreifung außer
Kraft gesetzt hatte.
Hoch fliegen die Hoffnungen in Perioden des gesellschaftlichen Umschwungs,
doch so gut wie nie finden sie ihre Umsetzung in der Wirklichkeit, der
gemeine Mann wird mit Bruchstücken abgespeist, murrt und verstummt. So war
und ist es und so wird es immer sein.
Warum ist Aitmatows Arsen Samantschin ein Held? Weil seine Sache die der
Gerechtigkeit ist. Er schreibt in einer Epoche, in der die meisten
Zeitungen nur noch die vorgefertigten Pressemitteilungen zum Abdruck
bringen, Artikel wie „Das pathologische Streben nach Reichtum und Macht“, wendet sich gegen die neue Oberschicht der genußsüchtigen Oligarchen, den
kulturellen Verfall und die Restauration der religiösen Umtriebe. Das
wollen die Kritisierten nicht dulden, und so reagieren sie auf Samantschins
Waffe der Kritik mit der Kritik der Waffen. Man wirft den engagierten
Journalisten aus seinem Stammlokal, schüchtert ihn ein: „Schluss mit dem Artikelschreiben, dieser Mist“ (S. 46).
Da haben wir also die beiden Parias Arsen und den Schneeleoparden
Dscha-Baars. Sie sind dem Untergang geweiht, das Schicksal wird sie in Ort
und Zeit zueinander führen. Wo und wann? Arsen wird im Auftrage seines
Bruders, der ein Jagdunternehmen leitet, als Dolmetscher für zwei arabische
Prinzen tätig sein. Diese möchten einen oder mehrere Schneeleoparden als
Trophäen in ihr Ölparadies mitnehmen...
So weit zur Handlung des Romans – um dem Leser nicht zu viel des Plots
aufzudecken.
Tschingis Aitmatow (geb. 1928) hat sich mit seinem neuen Roman dem
gesellschaftlichen Sein zugewandt. Dies verdient in unserer epikureischen
Epoche besonders hervorgehoben zu werden. Warum? Weil die wenigen großen
Autoren von heute die drängenden Fragen unserer Zeit ignorieren, sich wie
z.B. hierzulande Christa Wolf lieber mit der griechischen Mythologie
(„Medea: Stimmen.“) befassen oder wie Günter Grass zum x-ten Mal die
Vergangenheit umwälzen. Mit der dem Schneeleoparden angehängten Erzählung „Töten – Nichttöten“, die im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, nimmt Aitmatow zwar auch wieder
Bezug auf die Vergangenheit und verzichtet durch die Legende von der
„Ewigen Braut“, welche den Roman als Leitmotiv durchzieht, nicht auf
mythologische Elemente, doch steht er trotzdem mit beiden Füßen auf dem
Boden der Gegenwart. Man mag beklagen, dass auch Aitmatow, indem er von
unserer oberflächlichen Zeit schreibt, zu einer gewissen Oberflächlichkeit
genötigt wird. Er muss sich ja der Symbole von heute bedienen, auf eine
bestimmte Geschwindigkeit kommen, bei der die Schilderung der Figuren
zwangsläufig an Tiefe verliert. Und so fühlt man sich beim Lesen des
Schneeleoparden manchmal an die aktionsreiche Hektik anglo-amerikanischer
Politthriller erinnert, in denen Gut und Böse auch ihre Kämpfe austragen.
Aitmatow bietet dem Leser aber mehr als solche Massenware: präzise
Naturschilderungen, aktuelle Gesellschaftskritik, einen Gesang auf das
Leben und die Liebe, einen Korb voller Früchte der traditionsreichen
kirgisischen Kultur.
Es ist zu hoffen, dass sich unsere Schriftsteller an Aitmatow ein Beispiel
nehmen und sich – wie sehr sie es auch ablehnen mögen – mit dem
gesellschaftlichen Heute befassen: Kritisch und noch tiefer als im
Schneeleoparden.