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Der grüne Heinrich

Gottfried Keller

Es ist eine Geschichte vom Her- und Hinkommen, kaum des Bleibens, von Entdeckungsfahrten des Ichs und des Vorfindens einer präformierten Welt, die man doch in bescheidenem Umfang - zwar oft mit etlichem Aufwand - zu der seinen machen und zuweilen gar ein wenig verändern kann: Gottfried Kellers Erstfassung von "Der grüne Heinrich" (1854/55), ein jugendlich-kräftiger Künstlerroman, vom Sujet vergleichbar mit Honoré de Balzacs "Illusions perdues" (Verlorene Illusionen, 1846) und Knut Hamsuns "Sult" (Hunger, 1890), ja, diese Schriften decken sich gar in vielen Erfahrungen, die der jeweilige Protagonist in ihnen zu gewärtigen hat und speisen ihre Flammen aus zum Teil autobiographisch-sengendem Feuer. Bei Gottfried Keller heisst der Protagonist Heinrich Lee, der grüne Heinrich, weil er als Halbwaise seines verstorbenen Vaters grüne Stoffvorräte geerbt hat, aus denen fast seine sämtliche Kleidung gemacht ist, aber grün auch, weil er eben ein noch ganz grüner Jüngling ist, gerade erst durch den Frühling des Lebens geht, durch hoffnungsfrohe Knospenlandschaft und heftigen Blütenrausch.

Heinrichs Vater war ein Mann der Tat, jemand, der Seinesgleichen hinter sich gelassen und es zu etwas gebracht hat: Einträgliche Geschäfte, Besitztümer und eine frohe Familie. Doch nicht viel konnte hiervon nach seinem frühen Tod gerettet werden. Es blieb ein einziges Haus, in dem der grüne Heinrich mit seiner Mutter wohnte, eine Familie mit Leerstelle. Eine neue Bescheidenheit zog ein. In dieser Bescheidenheit wuchs Heinrich groß - und doch auch wie Hölderlin "im Arme der Götter": die Stille des Äthers verstehend, aber kaum die Worte der Menschen...

Mit fünfzehn Jahren wird Heinrich als Rädelsführer eines spott-schäumenden Aufruhrs, der sich gegen einen suspendierten Lehrer richtete, der Schule verwiesen und er muss sich von da an zum Herrn seiner selbst aufschwingen. Während er einen Sommer über seine Verwandten auf dem Lande besucht, reift in ihm der verheerende und auf erbauliche Übungen gegründete Entschluss, einmal von der Kunst zu leben und also Landschaftsmaler zu werden... Zurück in seiner Heimatstadt, beginnt Heinrich eine Ausbildung im Atelier des Herren Habersaat, in welchem Bilder in sozusagen industrieller Machweise verfertigt werden. Die künstlerischen Flügelschläge haben zu unterbleiben und so kann der Heinrich nicht in die Himmelwelten und -weiten seines Ideals aufsteigen. Erst als er - wie es der Zufall wohl nicht anders gewollt hat - auf den heruntergelebten, schlecht beleumundeten und dem echten Wahnsinn anheim gefallenen Künstler Römer trifft, kann seine Ausbildung in künstlerische Tiefen gehen, da er von diesem Mann - durch die Mutter finanziert - erkleckliches erlernt. Aber dieses hat irgendwann ein Ende, und der Herr Römer zieht nach Paris, um sein Leben dort zu beschließen, wohl in einer ihm angemessenen, gediegenen psychiatrischen Anstalt. So geht dieses eine Künstlerschicksal.

Für Heinrich folgt die Militärzeit, in welcher er die Geschichte seiner Jugend zu Papiere bringt, und dann das Verlassen der Schweiz. Heinrich lässt sich in München nieder, um dort als Maler zu leben, aber er hat beim Gelderwerb bei weitem nicht so viel Talent wie in der Malerei, so dass er in immer ärmlichere Verhältnisse gerät und bald seine Studienzeichnungen und Gemälde für ein Toilettengeld einem Trödler überlässt und sich bis zum Bemalen einer Unmenge von Fahnenstangen herablässt, um sich dann kurz darauf als hungernder Obdachloser auf den Weg zurück in die Schweiz zu machen. Aber Heinrich soll seine Heimat nicht als Verlierer wiedersehen, er hat seltenes Glück und wird von einem Grafen aufgenommen, der ihm etwas unter die abgeschlafften Arme greift und sich - obwohl Heinrich sich "nicht viel" daraus macht - dafür auf den Mund küssen lässt...

Wie Gottfried Keller selbst hegt Heinrich eher unglückliche Beziehungen zu den Frauen, auch wenn er ihnen in seinen Entwicklungsphasen gestattet, einen großen Raum seines Denkens und Empfindens auszufüllen - es gelingt ihm nicht, diesen mit der Wirklichkeit zu verknüpfen, und so bleiben die Lieben zu den Mädchen und Frauen Anna, Judith und Dortchen seltsame Fantasmen, die nicht wissen, wie auf festerem Boden zu wandeln - und die nur vom Windhauch getrieben in dämmernden Stunden durch die Lüfte flattern. Diese Lieben sind kaum mehr als Beimenge, aber sie widerspiegeln die Art, in der Heinrich nach einem erfüllten Leben sucht: Zwar strebt er stets dem Realismus zu, doch indem er diesen verherrlicht und mit den Zierstücken seines jugendlichen Wollens aufputzt, verfängt er sich in den Webfäden einer weltfernen Innerlichkeit.

Wenn zwar noch nicht allzuviel, so weiss der grüne Heinrich doch, dass das Leben kein Bleiben ist, sondern wie "der rauschende Fluss, die rauschenden Bäume" die zu singen scheinen:

"Siehe, wir rauschen, wehen und fließen, atmen und leben und sind alle Augenblicke da, wie wir sind, und lassen uns nichts anfechten. Wir (...) sind doch nie etwas anderes als das, was wir sind!". Das möchte auch Heinrich: Der sein, der er ist - und das, was er ihm bestimmt zu sein glaubt: Ein Künstler. Doch auch ein Künstler lebt nur von der Kunst, Geld - wenn nicht: zu haben - zu machen.

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2009-03-28)

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