"Die Bibliothek von Babel" ist eines jener kleinen Reclam-Hefte,
die man gern in der U-Bahn, im Wartezimmer und überall, wo man sich sonst
gern die Zeit sinnvoll vertreibt, lesen kann und mag. Die sechs in ihm
enthaltenen, sozusagen phantastischen Kurzgeschichten ermöglichen einen
ersten bescheidenen Zugang zum Werk des 1986 verstorbenen argentinischen
Schriftstellers Jorge Luis Borges. Die Werke heissen "Der
Unsterbliche", "Tlön, Uqbar, Orbis, Tertius", "Die
kreisförmigen Ruinen", "Die Bibliothek von Babel", "Der
Süden" und "Die Begegnung". Allesamt entführen sie den Leser
in Borges Welt der vielen möglichen Welten, in gedankliche Gegenentwürfe zu
dem Universum, welches wir gewohnt sind, zu sehen. So entstehen Völker, die
eine Sprache entwickelt haben, die ohne Substantive auskommt, wandern
Seelen in den verschiedensten Verkörperungen durch die
Menschheitsgeschichte, offenbart sich die Bibliothek von Babel als das
Paradies, das alle möglichen und unmöglichen Bücher, die je geschrieben
worden sind und geschrieben werden, enthält. All diese phantastischen
Ereignisse und Gegebenheiten dienen nicht wie in der sogenannten
Fantasy-Literatur der bloßen Unterhaltung des Lesers, bei Borges erfüllen
sie einen philosophischen Zweck, den er mit einer großen Ernsthaftigkeit
verfolgte. Seine Schilderungen haben genau den Wahrheitsanspruch, der auch
einer tatsächlich geschichtlichen Abhandlung innewohnt.
Vielleicht hat Borges mit seinen Kurzgeschichten sogar die Schopenhauersche
Idee von der Welt als Wille und Vorstellung auf die Spitze getrieben. Wie
wirken diese Geschichten aber nun auf den Leser? Sich auf sie einzulassen,
ist vor allem eine aufregende Entdeckungsreise. Man muss sich entkrampfen
und akzeptieren, dass das, was man von Borges vorgesetzt bekommt,
wenigstens für einen Moment zur eigenen Wirklichkeit wird. Wenn man ihr
dann wieder entschwindet, ist auch die persönliche Realität nicht mehr, was
sie einst war. Im besten Fall ist man in der Lage, eigene überkommene
Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen und letztlich zu überwinden.
Ein Schriftsteller, der in der Lage ist, eine solche Entwicklung
anzustoßen, kann nur ein wahrhaft großer Schriftsteller sein. Durch die
vielen möglichen Welten relativiert Borges totalitäre Weltbilder mit
Alleingültigkeitsanspruch. Damit hat er erkannt, dass die Zeit der
Religionen und Ideologien, die allesamt nur das schlimmste Verderben mit
sich bringen, vorbei ist. Es ist zu hoffen, dass sich diese gesunde
Verneinungshaltung gegenüber geistigen Verführern weiterhin durchsetzt.
Eines Tages wird es dann auch keine blinden Buchgläubigen mehr geben.
"Seltsam. Alles ist wie ein Traum"
Jorge Luis Borges
Die Bibliothek von Babel
Reclam Universal-Bibliothek
ISBN 3-15-009497-6
83 Seiten, € 2,60