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Lolita

Vladimir Nabokov

In "Lolita" (1955) erhält der Leser einen Einblick in die Odyssee des ca. 40-jährigen Ich-Erzählers mit dem Pseudonym Humbert Humbert - eine Irrfahrt, die er mit der minderjährigen Waise Dolores Haze, genannt Lolita, in einem Auto quer die Vereinigten Staaten von Amerika unternommen hat. Humbert Humbert ist Päderast, seine sexuelle Deviation richtet sich auf 12 bis 15-jährige Mädchen auf dem Wege zum Frausein. Er ist von diesen unschuldigen Erscheinungen besessen, nennt sie Dämonkinder und Nymphchen, die ihn durch ihre strahlenden Blicke verführen - und eines Tages, als er auf Wohnungssuche ein Zimmer zur Untermiete besichtigt, trifft er auf die kleine 12-jährige Lolita, die bei ihrer Mutter in dem selben Haus wohnt. Obwohl ihm die Wohnung nicht gefällt, zieht er ein und sucht immer wieder zaghaft die Nähe zu Lolita, aber es bietet sich ihm keine günstige Gelegenheit, seiner abnormen Neigung freien Lauf zu lassen. Derweil verliebt sich Lolitas spröde und tiefgläubige Mutter in Humbert und stellt ihn eines Tages mittels eines Briefes vor die Wahl: Entweder, er müsse sofort ausziehen, oder er erwidere ihre Liebe und heirate sie. Humbert entscheidet sich für die letzgenannte Option, um seine Lolita nicht zu verlieren.
Lolitas Mutter stirbt eines Tages bei einem Autounfall - ein Glücksfall für Humbert, der Lolita nun ganz für sich haben kann und mit ihr fortan von Hotel von Hotel durch das weite Land zieht und sich seine sexuellen Wünsche erfüllen lässt. Versuchte Humbert seinen Trieb anfangs noch zu rechtfertigen, indem er immer wieder Fakten anführte wie "Mädchen im Bundesstaat x werden im Alter von y Jahren geschlechtsreif" oder Beispiele aus der Geschichte, in denen sich alte Säcke ungestraft an jungen Dingern vergingen - je länger die Odyssee dauert, um so weniger kümmert er sich um die Moral und die Verwerflichkeit seines Tuns. Die ständige Furcht vor dem Entdecktwerden und der Strenge des Gesetzes treibt ihn jedoch in die Paranoia, zerrüttet seine Wahrnehmung durch lebendige Halluzinationen. Die Geschichte wird schwammig, gipfelt in einem Mord und einer anschliessenden Geisterfahrt ...

Als "Lolita" zum Ende der 50er Jahre erschien, hat es einen gehörigen Skandal ausgelöst - und seinen Autoren weltberühmt gemacht. Das Buch ist längst verfilmt worden und zum Klassiker avanciert, wenn aber, wie in der mir vorliegenden Ausgabe von rowohlt, auf dem Buchrücken steht, dass es sich bei "Lolita" um einen der großen Liebesromane der Weltliteratur handelt, muss ich dem kräftig widersprechen. Humberts Zuneigung zu Lolita ist mitnichten eine Liebe. Sie ist "nur" ein entarteter Trieb, der das ganze Leben eines jungen Mädchens rücksichtslos zerstört. Humberts Zuneigung zu Lolita bleibt auf das rein sexuelle und physische beschränkt (er rechnet sich schon im Kopf aus, wann sie "verwelkt" sein und seinen Ansprüchen auf unschuldiges Fleisch nicht mehr genügen wird). Sie ist ein von ihm abhängiges Kind, er ist ihr sexueller Ausbeuter, der sich abmühen muss, sie durch diverse Zerstreuungen und Versprechungen bei Laune und sie sich durch finstere Drohungen gefügig zu halten. Es ist eine "Beziehung" von sehr einseitigem Nutzen für Humbert, der sein Glück bald nicht mehr genießen kann, da ihn, wie oben bereits geschildert, die Paranoia zerfrisst.

Es ist sicher ein streitbarer Punkt, ob es von Vladimir Nabokov eine moralisch vertretbarer Einfall war, seine Geschichte in der Ich-Perspektive, die keine Eingriffe eines mehr-wissenden Erzählers erlaubt, anzulegen. Im Nachwort schildert er, wie ihn die Idee zu dem Roman über Jahre verfolgt hat, wie sich aus verschiedenen Prototypen das nun vorliegende Endprodukt entwickelte, wie er sich das Buch vom Leib schreiben musste. Über den Sinn und die Absichten, die sich hinter dem Roman verbergen, weiss er nur zu sagen, dass er es allein der Kunst willen getan hat.

Was bleibt noch zu sagen? "Lolita" ist gut geschrieben, nervt manchmal aber durch die vielen französischen Aussprüche, die es enthält. Der Roman folgt ganz der mächtigen russischen Erzähltradition und erinnert einen immer wieder an Dostojewskis "Schuld und Sühne", auch wenn er nicht an seine Größe heranreichen kann - durch sein kontroverses Thema jedenfalls ist "Lolita" imstande, auch gut 50 Jahre nach seinem Ersterscheinen für einiges Gerede zu sorgen. Der Leser sollte sich durch die Ich-Erzählweise aber nicht dazu verleiten lassen, allzuviel Sympathie mit der Figur des Humbert Humbert zu hegen. Er hat ein irreversibles, selbstsüchtiges Verbrechen begangen, das auch durch dafür gerichtlich verhängte Höchststrafen nicht an Schwere verliert.

Die für mich interessanteste Stelle des Buches hat nichts mit seinem eigentlichen Thema zu tun:

"Ich habe oft beobachtet, dass wir dazu neigen, unsere Freunde mit der nämlichen Wesensbeständigkeit auszustatten, die literarische Gestalten in der Vorstellung des Lesers erlangen. [...] Welche Entwicklung dieser oder jene Charakter zwischen den Buchdeckeln auch durchmacht, sein Schicksal ist in unseren Köpfen ein für alle Mal besiegelt, und ebenso erwarten wir von unseren Freunden, dass sie dieser oder jenen logischen und konventionellen Schablone treu bleiben, auf dir wie sie festgelegt haben. Nie wird X die unsterbliche Musik komponieren, die nicht zu den zweitklassigen Symphonienen passt, an die er uns gewöhnt hat. [...] In unseren Köpfen ist alles säuberlich zurechtgelegt, und je seltener wir eine bestimmte Person sehen, desto befriedigender ist es, sich davon zu überzeugen, wie gehorsam sie sich an den Begriff hält, den wir uns machen, so oft wir von ihr hören. Jede Abweichung von dem Schicksalsweg, den wir für sie ausgearbeitet haben, empfinden wir nicht nur als unnormal, sondern auch als unmoralisch. Es wäre uns lieber, wir hätten unseren Nachbarn, den Würstchenbudenbesitzer im Ruhestand, nie gekannt, als zu erfahren, dass er gerade die größte Dichtung seiner Zeit hervorgebracht hat."

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2004-08-26)

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