Da ist ein Held, und er wird sich wie in der Mehrzahl aller Romane als ein
problematischer erweisen, Schelechow sein Name, Seemann unter Waffen seine
Profession. Sozialisiert wurde der junge Kerl im spät-zaristischen
Russland, in einer Junkerschule im bei Petersburg gelegenen Oranienbaum
erhielt er die Offiziersweihe. Das ganze Leben liegt, da er die Ausbildung
abgeschlossen, vor ihm. Schelechow kann im Dienste des Staates Karriere
machen, sich ein liebenswürdiges Weib suchen, gelegentlich ein bißchen über
die mentalen Auswürfe eines trockenen, deutschen Knochens namens Immanuel
Kant nachdenken, ganz einfach nach den in Kindheit und Jugend erworbenen
Werten glücklich werden...
Aber: Gar nicht einfach. Der Konflikt, den der zur Schwarzmeerflotte
abkommandierte Schelechow austragen muss, ist ein historischer:
Februarrevolution und Leninscher Oktoberumsturz haben Russland aus den
Angeln gehoben. Die Menschen sind, das Volk ist irritiert. Um die Macht
wird gekämpft. Auf welche Seite muss man sich schlagen, um seinen Hintern
auch künftig ins Warme zu bekommen? Wer hat die besseren Argumente? D.h. in
Russland: Welche Seite übt die erfolgreiche Gewalt aus?
Schelechow lebt auf einem Schiff vor der Krimstadt Sewastopol. In ihr
erstrahlt noch der alte Glanz: Kinos zeigen die neuesten Filme, in Cafés
wird gelärmt und gelacht, Frauen flanieren die Boulevards entlang, Matrosen
durchstreifen die Stadt auf der Suche nach Liebesabenteuern. Ein aus
bolschewistischer Sicht zum Untergang verdammtes bürgerlich-dekadentes
Milieu, das Schelechow aber doch anzieht. Die neue Gleichmacher-Moral hat
ihn noch nicht ganz und gar durchdrungen. Er verliebt sich in Sheka,
natürlich unglücklich. Liebesgeplänkel, Treffen im Dunkeln. Sheka hat einen
anderen, der kämpft noch im Weltkrieg... Sie wird sich für ihn entscheiden.
Und dann das Erstarken der Bolschewiki. Versammlungen, Reden, Aufruhr -
Lynchjustiz bei Tag und Nacht. Der Offiziersrang wird abgeschafft. Schritt
für Schritt sinkt Schelechow, bis er ein Nichts ist, das sich ganz und gar
in der Masse, die künftig alles sein soll, verliert. Ein unbedeutender
roter Punkt am Horizont, der gegen die Weißen zu Felde zieht, damit das
totalitäre Experiment unter dem Banner des Kommunismus durchgeführt werden
kann.
Alexander Malyschkin (1892-1938), der Autor des zwischen 1926 und 1931
entstandenen Romans, ist in der Sowjetunion seinerzeit schwer angegriffen
worden: die ersten beiden Teile von "Sewastopol" wurden in einer
Zeitschriften-Serie veröffentlicht - wer konnte bei dieser Vorgehensweise
ahnen, ob der Held Schelechow wirklich, wie man es selbstverständlich
erwartete, zum Sowjetkommunismus finden würde oder nicht?
Der regime-treue Sowjetkritiker Fadejew schrieb 1929 über die ihm
vorliegenden Teile von "Sewastopol":
Zitat: Solange der Roman noch nicht beendet ist, läßt sich schwer sagen, ob Schelechow, der Held des Romans, die Revolution des Proletariats verstehen und mit ihr verschmelzen oder ob er unter seiner individualistischen Last zusammenbrechen wird.
Fadejew, Alexander: Über Literatur. Berlin 1973. S. 312.
Schelechow hat die "individualistische Last", die doch seine
ganze Freiheit war, nicht tragen können. Als Mensch hat er sich aufgegeben
- um Bolschewik zu werden.