In der Bibliothek verbrauchter Namen steht auch der Chilene Pablo Neruda.
Welches Zonenörtchen hatte keine Pablo-Neruda-Straße? Und trotzdem: Wer hat
ihn denn gelesen? 1971 bekam Pablo Neruda den Literatur-Nobelpreis, aber
das heisst ja erst einmal gar nichts außer dass er ihn tatsächlich bekommen
hat. Nochmals trotzdem: Die Gedichte in chronologischer Ordnung, Band I bis
III (2928 Seiten), herausgegeben im Luchterhand-Verlag, übersetzt von
verschiedenen Übersetzern, liegen jetzt doch neben meinem Bett. Es ist eine
recht trockene Angelegenheit, die Gedichte fernab des Klangs des spanischen
Originals zu lesen, aber verdaulicher, weil ich immerhin kein Wort
nachschlagen muss, um alles zu verstehen. Nach den ersten 200 Seiten etwa
drei wirkliche Highlights, nicht die schlechteste Ausbeute, der Rest ist
schon in Ordnung – irgendwie.
Was sind mir die Gedichte der ersten 200 Seiten? Ich vergleiche das Lesen
dieser frühen Neruda-Gedichte mit dem Aufmachen von alten Flaschen, die man
sich zur Zierde in die Wohnung stellt und in welche der Dichter jede Menge
Seetang gesteckt hat. All den Seetang hole ich beim Lesen wieder hervor,
eine manchmal etwas langatmige Sache, lauter grünes Zeug kommt zum
Vorschein, eine Sache voller meist stumpfer Metaphern – im Deutschen
klingen sie halt nicht, da sind die Originale uneinholbar. Warum lese ich
das Werk trotzdem? Vielleicht gefällt mir die oft maritime Atmosphäre,
welche die Dichtungen ausstrahlen, aber vor allem möchte ich mich doch zum
großen Bruch hervorarbeiten, dem Zeitpunkt, an dem Neruda Kommunist wurde
und sich das auch in seinem Werk niederschlug, um am Ende zu sehen, wie er
möglicherweise wieder etwas Abstand gewann. Mag sein, dass sich andere
Menschen schon damit befasst haben, ich möchte es gern selbst nacherlesen.
Schriftsteller chronologisch zu lesen, finde ich faszinierend: Ein Leben
lesen, wie es sich entwickelt hat; deswegen ist mir die chronologische
Ordnung so wichtig. Ein Schaffen, das sich über einen gewissen Zeitraum
erstreckt, kann schließlich nie ein einziger Wurf sein, bezeugt immer eine
Bewegung des Geistes (der Mensch, der einen Text anfängt, schreibt ihn nie
zu Ende, weil er bereits ein anderer ist, wenn er ihn fertiggestellt hat),
daher ist ja auch beispielsweise die thematische Sortierung, die Porphyrios
als Nachlassverwalter Plotins bei dessen Schriften vorgenommen hat, nicht
sonderlich viel wert: Richard Harder hat bei seiner Werkausgabe des
Philosophen versucht, die Chronologie wieder herzustellen.
Ein gelebtes Leben von vorn bis hinten – in seinem literarischen Abdruck
nachlesbar:
Das ist doch nichts weniger als – wunderbar.