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Deutschland – Traum und Fiktion

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Reichstag in Berlin (März 2015)

Ich habe Thilo Sarrazin nie anders als auszugsweise gelesen, mir aber doch den einen oder anderen Gedanken zu seiner Person und seinen Thesen gemacht. Den meisten ist er wohl noch bekannt durch seinen Kassenschlager “Deutschland schafft sich ab”, der im Jahr 2010 erschien. Schon der Titel hat mich damals nicht angesprochen: Deutschland schafft sich doch nicht ab, es hat sich längst abgeschafft, nämlich vor allem in den Jahren 1933 bis 1945, als es den industriellen Massenmord am Menschen perfektionierte, die Intelligenz zum Schweigen brachte, aus dem Land trieb oder physisch vernichtete, als es im Zweiten Weltkrieg nicht nur seine Würde und Ehre, sondern ebenfalls einen Großteil seiner historischen Bausubstanz und einen wesentlichen Teil seiner Ländereien verlor, damit auch viel von seiner Kultur – denken wir allein an die östlichen Lebensarten und Dialekte. Wer weiß denn noch, was für ein Deutsch die Danziger, Schlesier oder Ostpreußen geredet haben, wie ihre Küche aussah? Nach 1945 verblieb die heute als Ostdeutschland bekannte Mitte Deutschlands für Jahrzehnte in einem totalitären System, im Westen verdrängte man die Gräuel der vergangenen Jahre durch Arbeit und noch mehr Arbeit. Deutschland ist also im Zweiten Weltkrieg und den Jahren davor untergegangen. Was sich heute Deutschland nennt, ist nur noch Knochen ohne Fleisch – ein Gerippe. Von daher verstehe ich einen Grünen-Politiker wie Robert Habeck, der im Wahljahr 2021 sagte: “Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht”. Ich verstehe ihn und stimme ihm gewisserweise auch zu. Deutschland ist eine Fiktion, zu der man als positiver Mensch nur schwer einen positiven Bezug haben kann. Es gibt sicherlich einige, die bei der Deutschlandfahne an das Hambacher Fest, an “Einigkeit und Recht und Freiheit” denken – ich kann mich auch irgendwie dazu zwingen; aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen im Ostdeutschland der frühen 1990er Jahre verbinde ich die Deutschlandfahne aber eher – und das sicher bis an mein Lebensende – mit marodierenden Nazi-Skinheads, die ein paar Jährchen zuvor noch brave Pioniere und FDJler waren und nun rechten Terror verbreiteten. Vom Kommunismus zum Faschismus brauchte es nur einen Trippelschritt in Springerstiefeln – so schnell kann man vom einen Ende zum anderen Ende des Hufeisens kommen; der Übergang von Faschismus zu Kommunismus vollzog sich nach 1945 ja auch schon recht geschmeidig …

An Deutschland liebe ich vielleicht neben seinen wenigen Naturschutzgebieten nur seine Kultur, die deutsche Sprache, welche bereits über seine Landesgrenzen hinausweist, die Werke, die in ihr verfasst worden sind. Ich denke an große Namen wie Friedrich Hölderlin und Nietzsche, Fichte, Herder und Hegel, Georg Trakl, Stefan George, Franz Kafka und Joseph Roth. Die möchte ich in meinem Leben nicht missen, ohne sie wäre es bis hierher ein wesentlich ärmeres gewesen. Aber das alles ist Vergangenheit. Nach Thomas Bernhard, der immerhin schon 1989 starb, hat mich kein Buch mehr berührt, das originär auf Deutsch verfasst worden ist. Die von Verlagen gedruckte deutschsprachige Literatur hat sich – zumindest in meinen Augen – also auch schon abgeschafft. Ohne es hier weiter auszuführen, hat die Entwicklung der Sprache natürlich sehr viel mit den neuen Medien, mit unserer ganzen digitalen Kommunikation zu tun. Man vergleiche nur eine Tageszeitung von heute mit einer von vor hundert Jahren … Verwahrlosung in der Bildung und schlecht integrierte Sprachneulinge wirken von unten auf die Sprache, Sprachmaoisten wirken auf sie von oben; viele Angehörige der gebildeteren Schichten, die in Lohn und Brot stehen, kommunizieren ohnehin den halben Tag nur auf Englisch. Abseits der Wirtschaft ist in diesem Land nicht viel los – in anderen Ländern mag es ähnlich sein, aber die sind nicht Thema dieses Textes. Ich bleibe also bei meiner Hyperbel: Deutschland hat sich längst abgeschafft, nur für ein paar Millionen Träumer steht Deutschland-Kaltland noch für den Traum vom besseren Leben – vielleicht, weil sie es lediglich aus ihren Träumen kennen?

Sarrazin habe ich vor einigen Jahren eines Sonntags beim Spazieren im Historischen Hafen von Berlin gesehen; er war offenbar in Begleitung seiner Familie oder enger gleichaltriger Freunde. Irgendwie habe ich ihn verachtet, als ich ihn erkannte: Ein Mensch, der soetwas geschrieben hat ... Das war natürlich dumm und unnötig. Für einen Politiker kann Thilo Sarrazin immerhin einigermaßen gut und außerordentlich erfolgreich schreiben – im Gegensatz zu anderen Politikern, die ihre Bücher gar nicht selber verfassen und am Ende vielleicht sogar vom Markt nehmen müssen, um weiteren Schaden von sich abzuwenden. Ob man ihm im einzelnen zustimmt oder nicht: Sarrazin ist jemand, der den Finger in real-existierende Wunden legt und Themen behandelt, die offenbar viele Menschen bewegen. Natürlich wäre ein Leben ganz ohne gesellschaftliche Probleme und Wünsche schöner, aber das wird es nie geben.

Sarrazin verfasste im Jahr 2014 mit “Der neue Tugendterror” ein Buch, in dem er seine Erfahrungen, die er im Anschluss an sein Deutschland-Buch machte, auswertet. Es ist in diesem Jahr (2021) mit einem frischen Vorwort neu aufgelegt worden und für mich das wesentlich interessantere, gerade weil die sogenannte Identitätspolitik, deren maßgebliches Mittel ja der Tugendterror ist, das Leben in diesem Land, nenne man es Deutschland oder wie auch immer, zunehmend zum weniger guten hin verändert. In der Einleitung von 2014 zitiert Sarrazin den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und bezieht dessen Worte auch auf das, was ihm selbst widerfahren ist:

Zitat:

Moralische Empörung suggeriert ein Ad-hoc-Verstehen, liefert die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben und im Moment der kollektiven Wut Gemeinschaft zu finden. Sie kommt dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen, bedient sich der Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dem Sofort-Urteil und der Instant-Entlarvung.



Für dieses Zitat bin ich dem ehemaligen SPD-Mitglied auf jeden Fall dankbar.

Veröffentlicht am 22.11.2021

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