Ich habe Thilo Sarrazin nie anders als auszugsweise gelesen, mir aber doch
den einen oder anderen Gedanken zu seiner Person und seinen Thesen gemacht.
Den meisten ist er wohl noch bekannt durch seinen Kassenschlager “Deutschland schafft sich ab”, der im Jahr 2010 erschien. Schon der Titel hat mich damals nicht
angesprochen: Deutschland schafft sich doch nicht ab, es hat sich längst
abgeschafft, nämlich vor allem in den Jahren 1933 bis 1945, als es den
industriellen Massenmord am Menschen perfektionierte, die Intelligenz zum
Schweigen brachte, aus dem Land trieb oder physisch vernichtete, als es im
Zweiten Weltkrieg nicht nur seine Würde und Ehre, sondern ebenfalls einen
Großteil seiner historischen Bausubstanz und einen wesentlichen Teil seiner
Ländereien verlor, damit auch viel von seiner Kultur – denken wir allein an
die östlichen Lebensarten und Dialekte. Wer weiß denn noch, was für ein
Deutsch die Danziger, Schlesier oder Ostpreußen geredet haben, wie ihre
Küche aussah? Nach 1945 verblieb die heute als Ostdeutschland bekannte
Mitte Deutschlands für Jahrzehnte in einem totalitären System, im Westen
verdrängte man die Gräuel der vergangenen Jahre durch Arbeit und noch mehr
Arbeit. Deutschland ist also im Zweiten Weltkrieg und den Jahren davor
untergegangen. Was sich heute Deutschland nennt, ist nur noch Knochen ohne
Fleisch – ein Gerippe. Von daher verstehe ich einen Grünen-Politiker wie
Robert Habeck, der im Wahljahr 2021 sagte: “Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute
nicht”. Ich verstehe ihn und stimme ihm gewisserweise auch zu. Deutschland ist
eine Fiktion, zu der man als positiver Mensch nur schwer einen positiven
Bezug haben kann. Es gibt sicherlich einige, die bei der Deutschlandfahne
an das Hambacher Fest, an “Einigkeit und Recht und Freiheit” denken – ich
kann mich auch irgendwie dazu zwingen; aufgrund meiner persönlichen
Erfahrungen im Ostdeutschland der frühen 1990er Jahre verbinde ich die
Deutschlandfahne aber eher – und das sicher bis an mein Lebensende – mit
marodierenden Nazi-Skinheads, die ein paar Jährchen zuvor noch brave
Pioniere und FDJler waren und nun rechten Terror verbreiteten. Vom
Kommunismus zum Faschismus brauchte es nur einen Trippelschritt in
Springerstiefeln – so schnell kann man vom einen Ende zum anderen Ende des
Hufeisens kommen; der Übergang von Faschismus zu Kommunismus vollzog sich
nach 1945 ja auch schon recht geschmeidig …
An Deutschland liebe ich vielleicht neben seinen wenigen
Naturschutzgebieten nur seine Kultur, die deutsche Sprache, welche bereits
über seine Landesgrenzen hinausweist, die Werke, die in ihr verfasst worden
sind. Ich denke an große Namen wie Friedrich Hölderlin und Nietzsche,
Fichte, Herder und Hegel, Georg Trakl, Stefan George, Franz Kafka und
Joseph Roth. Die möchte ich in meinem Leben nicht missen, ohne sie wäre es
bis hierher ein wesentlich ärmeres gewesen. Aber das alles ist
Vergangenheit. Nach Thomas Bernhard, der immerhin schon 1989 starb, hat
mich kein Buch mehr berührt, das originär auf Deutsch verfasst worden ist.
Die von Verlagen gedruckte deutschsprachige Literatur hat sich – zumindest
in meinen Augen – also auch schon abgeschafft. Ohne es hier weiter
auszuführen, hat die Entwicklung der Sprache natürlich sehr viel mit den
neuen Medien, mit unserer ganzen digitalen Kommunikation zu tun. Man
vergleiche nur eine Tageszeitung von heute mit einer von vor hundert Jahren
… Verwahrlosung in der Bildung und schlecht integrierte Sprachneulinge
wirken von unten auf die Sprache, Sprachmaoisten wirken auf sie von oben;
viele Angehörige der gebildeteren Schichten, die in Lohn und Brot stehen,
kommunizieren ohnehin den halben Tag nur auf Englisch. Abseits der
Wirtschaft ist in diesem Land nicht viel los – in anderen Ländern mag es
ähnlich sein, aber die sind nicht Thema dieses Textes. Ich bleibe also bei
meiner Hyperbel: Deutschland hat sich längst abgeschafft, nur für ein paar
Millionen Träumer steht Deutschland-Kaltland noch für den Traum vom
besseren Leben – vielleicht, weil sie es lediglich aus ihren Träumen
kennen?
Sarrazin habe ich vor einigen Jahren eines Sonntags beim Spazieren im
Historischen Hafen von Berlin gesehen; er war offenbar in Begleitung seiner
Familie oder enger gleichaltriger Freunde. Irgendwie habe ich ihn
verachtet, als ich ihn erkannte: Ein Mensch, der soetwas geschrieben hat ... Das war natürlich dumm und unnötig. Für einen Politiker
kann Thilo Sarrazin immerhin einigermaßen gut und außerordentlich
erfolgreich schreiben – im Gegensatz zu anderen Politikern, die ihre Bücher
gar nicht selber verfassen und am Ende vielleicht sogar vom Markt nehmen
müssen, um weiteren Schaden von sich abzuwenden. Ob man ihm im einzelnen
zustimmt oder nicht: Sarrazin ist jemand, der den Finger in
real-existierende Wunden legt und Themen behandelt, die offenbar viele
Menschen bewegen. Natürlich wäre ein Leben ganz ohne gesellschaftliche
Probleme und Wünsche schöner, aber das wird es nie geben.
Sarrazin verfasste im Jahr 2014 mit “Der neue Tugendterror” ein Buch, in dem er seine Erfahrungen, die er im Anschluss an sein
Deutschland-Buch machte, auswertet. Es ist in diesem Jahr (2021) mit einem
frischen Vorwort neu aufgelegt worden und für mich das wesentlich
interessantere, gerade weil die sogenannte Identitätspolitik, deren
maßgebliches Mittel ja der Tugendterror ist, das Leben in diesem Land,
nenne man es Deutschland oder wie auch immer, zunehmend zum weniger guten
hin verändert. In der Einleitung von 2014 zitiert Sarrazin den
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und bezieht dessen Worte auch auf
das, was ihm selbst widerfahren ist:
Zitat: Moralische Empörung suggeriert ein Ad-hoc-Verstehen, liefert die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben und im Moment der kollektiven Wut Gemeinschaft zu finden. Sie kommt dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen, bedient sich der Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dem Sofort-Urteil und der Instant-Entlarvung.
Für dieses Zitat bin ich dem ehemaligen SPD-Mitglied auf jeden Fall
dankbar.