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Das letzte Kapitel

Knut Hamsun

"Ja, wir sind Landstreicher auf Erden. Wir wandern Wege und Wüsten, zuweilen kriechen wir, zuweilen gehen wir aufrecht und zertreten einander. So auch Daniel, der zertrat und selbst zertreten ward". - so beginnt der 1923 erstveröffentlichte Roman "Das letzte Kapitel" des norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun und mit diesen wenigen einleitenden Sätzen fasst er sogleich sein Wesen zusammen. "Das letzte Kapitel" ist eine große Auseinandersetzung mit dem Leben - und dem Sterben, das ihm unvermeidlich folgt. Die einen beenden ihr Leben heute, die anderen morgen, viele haben noch viele Tage vor sich, durch die sie sich schleppen müssen oder, wenn es das Schicksal gut mit ihnen meint, zuweilen auch hüpfen und springen.

Die Geschichte, die uns der Roman erzählt, ist wie wohl fast alle Werke Hamsuns in Norwegen angesiedelt, um genauer zu sein in einem neu gegründeten Sanatorium namens Torahus in den Sennalpen. Im Sanatorium finden sich bald die unterschiedlichsten Patienten mit den unterschiedlichsten persönlichen Lebenshintergründen ein. Manchmal sind sie Grafen, Prinzessinnen, Konsuln, Schuldirektoren oder "nur" Angestellte in einem Telegraphenbüro. Die Gesellschaft ist gemischt und doch haben sie alle denselben Ursprung, dasselbe Ziel - oder besser gesagt: Ende.

Der Tod ist ein häufiger Gast auf Torahus. Mal erwischt es den einen, dann ganz unvermutet den anderen. Die einzelnen Fälle hier aufzuzählen, könnte dem Leser die Lust am Lesen des Buches nehmen, deswegen verzichte ich an dieser Stelle hierauf.

Hamsun soll einmal auf die Frage, wovon denn sein Buch handele, schlichtweg geantwortet haben: "Vom Tod!". Als es entstand, war er schon über 60 Jahre alt - kein Wunder also, dass er sich mit gerade dieser Thematik näher auseinandergesetzt hat. Bei so viel Absicht im Entwurf eines Romans kann es jedoch schnell passieren, dass er tatsächlich unangenehm prätentiös wirkt, sich der Leser also als eine bloße Marionette fühlt, die der Autor unbedingt auf dieses und jenes stoßen möchte. Hamsun aber hat dies gekonnt vermieden - und auch so erscheint "Das letzte Kapitel" als eines der reifsten Stücke seines umfangreichen Schaffens. Ereignisse wie der Ausbruch des Ochsen oder das große Feuer sind in seinen Worten ungeheuer lebendig und plastisch geworden. Wenn man von ihnen liest, fühlt man sich direkt vor Ort und in die Zeit versetzt.

Einer der Protagonisten des Werkes ist der Selbstmörder. Er ist ein philosophierender Zyniker, der hofft, sich im Sanatorium von seinen psychischen Leiden, die eigentlich ganz weltliche Ursachen haben, zu kurieren. Der häufige Gedanke an den Selbstmord erscheint ihm als ein Trost - und das ist er ja auch. Wenn alles andere misslingt - die Möglichkeit des Selbstmordes gibt uns unsere Sicherheit zurück. Trotz allem haben wir noch immer etwas in der Hand: unser Leben, mag es auch noch so klein und kläglich sein.

Vom Leben lässt Hamsun den Selbstmörder sagen:

"Wenn wir dann eine Zeitlang gewandert sind, dann wandern wir noch eine Weile; wir wandern einen Tag, darauf eine Nacht, und endlich in der Dämmerung des nächsten Tages ist die Stunde gekommen, und wir werden getötet, in Ernst und Güte getötet. Das ist der Roman des Lebens mit dem Tod als letztem Kapitel. Das ist alles so mystisch."

Und wenn der Autor versucht, wissenschaftlichen Stumpfsinn zu relativieren, der in "Das letzte Kapitel" durch die Figur des Schuldirektors verkörpert wird, ist es wieder der Selbstmörder, der die wahren Worte in die Welt und dem lebensfremden wie verständnislosen Direktoren ins Gesicht schleudern muss:

"Ihre Kinder lernen von Sprachen und Kunst, lernen von Schiffen und Sternen, von Geld und Kriegen, von Elektrizität, Kalorien, Mathematik, Bäumen und Sprachen. Und Sprachen. Aber alles das hat ja an und für sich keinen reellen Inhalt, man kann nur einen Zustand, eine Lebensform darin etablieren, es ist mechanische Dressur ohne ethischen Wert. Aber nun das, was im Menschen wohnt, wie steht es damit, mit der Seele, der Natur selbst? Unsere Seele ist nicht reich im Verhältnis zu dem, was wir aus Büchern gelernt haben, aber gerade im Verhältnis zu ihr können wir Bücherweisheit entbehren. Das, was in uns wohnt, ist ja der Mensch selbst und ist ein Selbst".

Mit den obenstehenden Sätzen endet nun diese Rezension.

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2004-12-14)

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