Mein privater Lyrikhimmel – ich möchte hier lieber nicht von einem “Kanon”
sprechen – ist recht eng, und deswegen gibt es dort wenig Platz für
einzelne Dichter, Werke, Texte, Verse oder auch nur Zeilen. So kommt es
dann von Zeit zu Zeit vor, dass eine überraschende Überraschung in Form der
Bewusstwerdung einer Lücke eintritt, ich also plötzlich mit einem Gedicht
konfrontiert werde, von dem ich denke, dass ich es vielleicht hätte kennen
müssen. Kürzlich geschah genau das beim Schauen eines sonst sehr
langweiligen Filmes:
In einer Szene fährt ein älterer Mann mit seinem Auto munter durch die
grüne Landschaft, vielleicht handelt es sich um die Vysočina, er ist
vergnügt, hat Freude an seiner Tour und hört dabei nicht etwa Radio,
sondern rezitiert Verse, die sonderbar vertraut klingen, und die ich
dennoch nicht eindeutig zuordnen kann. Sie sind von zauberhafter Schönheit
und arbeiten mit ganz einfachen Worten, muten verdächtig klassisch an.
Das Gedicht ist wie ein einzelner starker Sonnenstrahl im Frühling – auch
die Textform sieht, wie ich später feststelle, einem solchen nicht
unähnlich. Im Film gleitet der Autofahrer locker von Satz zu Satz und
bricht schließlich mit den Worten “Weiter weiss ich nicht” ab. Das ist für mich durchaus in Ordnung, da das Gedicht nach hinten
deutlich schwächer wird, ihm gewissermaßen die Luft ausgeht, deswegen
zitiere ich hier lediglich seinen Anfang und verweise danach auf den ganzen
Text. Ja, natürlich handelt es sich um das Mailied von Goethe:
Zitat: Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch
Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!
Johann Wolfgang von Goethe: Mailied (versalia.de)