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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Nicht der Text allein

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Wenn A und B den gleichen Text schreiben, ist es doch nicht das gleiche, denn nicht der Text allein zählt, und sei er noch so “gut” geschrieben (was immer man darunter verstehen mag), sondern es zählt auch, wer ihn geschrieben hat. In der Malerei ist es ähnlich, gerade bei Werken, die kein besonderes Handwerk erforderten, um erschaffen zu werden: Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dem schwarzen Quadrat, mit dem der Name Malewitschs verbunden ist und einem denkbaren, das zur gleichen Zeit von irgendwem zu Papier gebracht worden sein könnte. Nur das erste hat Kunstgeschichte geschrieben.

Ein weiteres kontrafaktisches Szenario: Von Pindar sind nur die Siegeslieder vollständig erhalten, nicht aber zum Beispiel die Loblieder. Stellen wir uns einen bisher namenlosen Autoren Z vor, der es gestern fertiggebracht hat, durch einen kosmischen Zufall eines der verschollenen Loblieder erneut zu “komponieren”, dieser Fakt ist aber niemandem bekannt, nicht einmal dem Autoren selbst. Wen würde dieser Text interessieren, welche Öffentlichkeit bekäme er? Und wen würde der gleiche Text interessieren, wenn man ihn morgen aus einem Haufen Geröll hervorzöge und Experten feststellten, dass es sich tatsächlich um einen verlorenen Text Pindars handelt?

Und noch ein anderes Szenario: Jemand, nennen wir ihn Y, meint, dass es einige seiner Gedichte durchaus mit denen von X, der ein berühmter und erfolgreicher Dichter war, qualitativ aufnehmen können, vielleicht meint er das sogar berechtigterweise. Was aber ist der Unterschied, warum hatte X Erfolg, Y aber bisher noch nicht? Schauen wir kurz auf die Biographie: X hat ein aufregendes Leben geführt, die verschiedensten Arbeitsstellen gehabt, ab einem gewissen Zeitpunkt fing er an, in Zeitschriften, die gelesen wurden, seine Gedichte zu veröffentlichen, er übersetzte andere Gedichte in seine Sprache, seine Ausbürgerung hat weltweit Schlagzeilen produziert, sie machten seinen Namen noch größer, er verfasste zahlreiche Gedichtbände, schrieb in seiner Muttersprache und in einer weiteren Weltsprache, verfasste diverse Bücher zur Poetik, er lebte für die Poesie, er war aktiv, er ging zu wesentlichen Menschen, die ihn voranbrachten. Es sind Plattheiten: Ohne Menschen geht es nicht, wenn man mit dem Schreiben auch weltliche Ambitionen verbindet: Menschen sind bekannterweise die einzigen Kreaturen, die sich für literarische Werke interessieren können. Manchmal mag es genügen, dem einen wichtigen Menschen zu begegnen, der Dinge für einen ins Rollen bringen und andere Menschen beeinflussen kann …

Der Erfolg von X ist nicht kopierbar, und so kann man aus ihm auch kein generalisierbares Rezept ableiten, aber die Biographie von X ist beeindruckend, der Dichter hat einiges bewegt und sich seinen Ruhm offensichtlich verdient erarbeitet – ob man nun seine Gedichte mag oder nicht. Ein Trost ist, dass auch Z die Chance hat, mit seinem Loblied ein Publikum zu finden, vielleicht merkt ja jemand, dass er wie Pindar schreiben und das dann recht unterhaltsam zu lesen sein kann – egal, wie anachronistisch es anmutet …

Was kann ich Y raten? Eigentlich nichts, weil ich über kein besonderes Wissen verfüge, wie man als Autor erfolgreich wird, weder in der Praxis noch in der Theorie, aber ich denke, er sollte weiterhin das schreiben, was er für gut und richtig hält, doch um irgendwie erfolgreich zu werden, wird das allein kaum genügen.

Veröffentlicht am 20.01.2022

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