Wenn A und B den gleichen Text schreiben, ist es doch nicht das gleiche,
denn nicht der Text allein zählt, und sei er noch so “gut” geschrieben (was
immer man darunter verstehen mag), sondern es zählt auch, wer ihn geschrieben hat. In der Malerei ist es ähnlich, gerade bei Werken, die
kein besonderes Handwerk erforderten, um erschaffen zu werden: Es besteht
ein himmelweiter Unterschied zwischen dem schwarzen Quadrat, mit dem der
Name Malewitschs verbunden ist und einem denkbaren, das zur gleichen Zeit von irgendwem zu Papier gebracht worden sein könnte. Nur das erste hat Kunstgeschichte
geschrieben.
Ein weiteres kontrafaktisches Szenario: Von Pindar sind nur die
Siegeslieder vollständig erhalten, nicht aber zum Beispiel die Loblieder.
Stellen wir uns einen bisher namenlosen Autoren Z vor, der es gestern
fertiggebracht hat, durch einen kosmischen Zufall eines der verschollenen
Loblieder erneut zu “komponieren”, dieser Fakt ist aber niemandem bekannt,
nicht einmal dem Autoren selbst. Wen würde dieser Text interessieren,
welche Öffentlichkeit bekäme er? Und wen würde der gleiche Text
interessieren, wenn man ihn morgen aus einem Haufen Geröll hervorzöge und
Experten feststellten, dass es sich tatsächlich um einen verlorenen Text
Pindars handelt?
Und noch ein anderes Szenario: Jemand, nennen wir ihn Y, meint, dass es
einige seiner Gedichte durchaus mit denen von X, der ein berühmter und
erfolgreicher Dichter war, qualitativ aufnehmen können, vielleicht meint er
das sogar berechtigterweise. Was aber ist der Unterschied, warum hatte X
Erfolg, Y aber bisher noch nicht? Schauen wir kurz auf die Biographie: X
hat ein aufregendes Leben geführt, die verschiedensten Arbeitsstellen
gehabt, ab einem gewissen Zeitpunkt fing er an, in Zeitschriften, die
gelesen wurden, seine Gedichte zu veröffentlichen, er übersetzte andere
Gedichte in seine Sprache, seine Ausbürgerung hat weltweit Schlagzeilen
produziert, sie machten seinen Namen noch größer, er verfasste zahlreiche
Gedichtbände, schrieb in seiner Muttersprache und in einer weiteren
Weltsprache, verfasste diverse Bücher zur Poetik, er lebte für die Poesie,
er war aktiv, er ging zu wesentlichen Menschen, die ihn voranbrachten. Es
sind Plattheiten: Ohne Menschen geht es nicht, wenn man mit dem Schreiben
auch weltliche Ambitionen verbindet: Menschen sind bekannterweise die
einzigen Kreaturen, die sich für literarische Werke interessieren können.
Manchmal mag es genügen, dem einen wichtigen Menschen zu begegnen, der Dinge für einen ins Rollen bringen und
andere Menschen beeinflussen kann …
Der Erfolg von X ist nicht kopierbar, und so kann man aus ihm auch kein
generalisierbares Rezept ableiten, aber die Biographie von X ist
beeindruckend, der Dichter hat einiges bewegt und sich seinen Ruhm
offensichtlich verdient erarbeitet – ob man nun seine Gedichte mag oder
nicht. Ein Trost ist, dass auch Z die Chance hat, mit seinem Loblied ein
Publikum zu finden, vielleicht merkt ja jemand, dass er wie Pindar
schreiben und das dann recht unterhaltsam zu lesen sein kann – egal, wie
anachronistisch es anmutet …
Was kann ich Y raten? Eigentlich nichts, weil ich über kein besonderes
Wissen verfüge, wie man als Autor erfolgreich wird, weder in der Praxis
noch in der Theorie, aber ich denke, er sollte weiterhin das schreiben, was
er für gut und richtig hält, doch um irgendwie erfolgreich zu werden, wird
das allein kaum genügen.