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Auch in Zittau Sonnenschein

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Eine vor allem sinnliche Erkundung eines dunkeldeutschen Ortes im wunderbaren Monat Mai

Alles, was grünen kann, grünt im Mai, die Sonne strahlt ganz unbekümmert, überschüttet die Welt auch hier, in einem der letzten Zipfel des Landes, mit ihrem Licht, und wenn es allein an ihr läge, würde sie niemanden in seiner vielleicht nicht immer selbst verschuldeten Trübsal zurücklassen. Der Flieder blüht für eine kurze Zeit nur lila und weiß, Veilchenrabatten strecken sich weit und breit, um die Augen etwaiger Betrachter zu erfreuen. Neben mit leuchtenden Farben prächtig neu angestrichenen historischen Gebäuden gähnt jedoch hier und dort der sorgenschwere Leerstand, manchmal breitet sich gar der Verfall mit seinem ewigen Hang, letztlich alles zu Boden zu ziehen und zu Staub zu machen, aus; er kratzt mit seinen scharfen Klauen, reißt mit seinen faulig-schwarzen Zähnen, schlägt zu mit seinen stumpfen Sinnen …

Die den einstigen Industriestandort prägenden Robur-Werke in der Nähe des weißen, stolzen und heute viel zu großen Bahnhofs sind längst geschlossen, gleich neben diesem fahren dampfende Lokomotiven auf der Schmalspurbahn von Zittau zum Kurort Oybin und zurück. Immer wieder.
Tausende Bewohner des Ortes sind seit dem Fall der menschenfeindlichen Moskauer Diktatur auf deutschem Boden abgewandert, aber ein Kebab-Haus immerhin, aus dem es verlockend nach Kreuzkümmel und etwas streng nach Fett riecht, hat geöffnet und wartet auf hungrige und vielleicht auch durstige Gäste.

Die Zittauer Straßen sind beängstigend leer, als wären sämtliche Einwohner der seit den späten 1950er Jahren fast durchgehend schrumpfenden Stadt erst vor kurzem irgendwohin evakuiert worden, weil eine unsichtbare aber doch tödliche Gefahr ihr Leben bedroht – und als nichtsahnenden Besucher wird sie einen vielleicht voll erwischen, also sollte man besser etwas vorsichtig sein, wenn man sich hier bewegt …
Nur gelegentlich sieht man Radfahrer, wie sie als vereinzelte Repräsentanten der menschlichen Gattung durch den Ort sausen, neugierige Ausflügler aus Polen oder Tschechien. Üppige SGD-Graffiti verzieren so manche Wand und zeigen an, zu wem man hier fußballerisch hält, auf wen man vielleicht sogar ein wenig stolz ist. Stichwort “Stolz”: Hochschulstadt darf sich der Ort seit 2024 ganz offiziell nennen, aber Zittau selbst hat ja gar keine Stimme, also wird er so genannt: Von welchen Menschen?

Die Friedensstraße führt aus der Stadt heraus bis an die Lausitzer Neiße zur polnischen Grenze, wo sie in die Drei-Staaten-Allee (Aleja Trzech Państw) übergeht und an der Bundespolizisten seit einigen Monaten wieder wachsamer sind: Man setzt mittlerweile mehr auf mobile als auf stationäre Kontrollen, weil diese größere Erfolge im Kampf gegen das Verbrechen versprechen. Man greift Menschen auf, die Drogen oder Waffen unerlaubt mit sich führen, die alkoholisiert sind oder keine richtigen Papiere bei sich haben. Der Staat setzt seine Ordnung und das von ihm definierte Recht wieder durch. Beglückt das irgendjemanden nachhaltig, oder liefert es nur neue Gründe, um zu schimpfen?

Die Einheimischen überqueren die deutsch-polnische Grenze, um billig zu tanken, um billig einzukaufen. So manch einen drückt das Gewissen dabei, aber was soll er denn machen: Jeder kauft nun einmal dort, wo der eigene Geldbeutel weniger belastet wird, sonst wäre man ja schön blöd – und blöd ist man hier ganz offensichtlich nicht. Es gibt sogar Stätten höherer Kultur in Zittau. Eine Bibliothek im Stadtzentrum ist nach Christian Weise benannt, einem Schriftsteller, Dramatiker und Pädagogen, der eine ähnlich ansehnliche Barock-Perücke wie Leibniz trug. Nur sechs Gehminuten davon entfernt liegt das Gerhart-Hauptmann-Theater. Es versprüht nach außen den architektonischen Charme der düsteren Nazi-Zeit, es könnte aber auch aus dem ebenso düsteren Stalinismus stammen, der nahtlos darauf folgte – allerdings wissen wir, dass das Haus 1936 als sogenanntes Grenzlandtheater eröffnet worden ist und dass die Reichsgauleitung, die Propaganda- und Innenministerien sowie die Rundfunkanstalt in das Projekt involviert waren. Momentan stehen Stücke wie “Überall ist Wunderland”, “Sehnsucht Leben” und “Angriffe auf Anne” im Programm. Wer sind die Leute, die sich diese Aufführungen des Zittauer Theaters ansehen?

Äußerlich wirkt in dieser kleinen Stadt fast alles so nett, nur die Menschenleere sorgt für eine gespenstische Stimmung, die einen fragen lässt, was hier nicht stimmt, und auch immer wieder, wo all jene sind, wo die große Mehrheit ist, die das Leben in unserem Gesellschaftssystem offenbar satt hat, diese große Mehrheit, die zur Bundestagswahl 2025 jene drei Parteien am extremen linken und rechten Rand ungeniert gewählt hat, die ein ganz grundlegendes Aufräumen versprechen, die mit dem völkermordenden Russland nicht nur kuscheln, sondern sicherlich auch gern ins Bett steigen würden, um kleine Satanskinder zu zeugen; diese drei populistischen Parteien, die beharrlich für einen ungerechten Frieden in der Ukraine arbeiten und jene mittlerweile die Mehrheit bildenden Wähler ansprechen, die sich nach einer strengeren Ordnung sehnen, wie sie in der DDR oder im Dritten Reich herrschte – und wie man sie als grünbedaumter Einwohner Zittaus in der kleinen eigenen Parzelle in einer der vielen überpflegten Kleingartenanlagen der Stadt im Kampf gegen die ungezügelte, freche Natur längst hergestellt hat.

Also, wo sind sie denn alle, diese Menschen mit ihren fürchterlich extremistischen politischen Neigungen, von denen ein gutes Sechstel bei der Bundestagswahl 2021 noch brav die SPD gewählt hat? Ich würde so gern ihre Gesichter sehen – zumindest doch, um einmal zu erkennen, ob sie eher feist oder leidend anmuten.

Veröffentlicht am 24.05.2025

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