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Warum ich ausgerechnet in der Ukraine die digitale Hygiene für mich entdeckte und wie ich durch sie wieder mehr Kontrolle über mein Leben erlangte

Manchmal braucht es einen besonderen Anstoß, um eine Veränderung in seinem Leben herbeizuführen. Einen solchen Anstoß habe ich selbst im Sommer 2024 in der Ukraine erhalten: Unser Urlaub in dem von Russen angegriffenen, überfallenen Land war zu einem gewissen Maß auch geprägt von Luftalarmen und Stromausfällen. Einmal saßen wir abends stundenlang im Dunkeln. Selbstverständlich gab es in dieser Zeit auch kein Internet und kein Wasser, und so erklärte es sich uns rasch, warum unsere Hauswirtin all die mit Wasser gefüllten Gefäße in unserer Unterkunft herumstehen hatte. Die Sirene heulte, draußen bellten die Hunde den unsichtbaren Feind an. Es war also stockfinster, und doch verbrachten wir in unserer privilegierten Position eine angenehme Zeit. Im Laufe des nächsten Tages gab es dann wieder Strom, oder Licht, wie es aus dem Ukrainischen wörtlich übersetzt heißt, und damit auch Internet. Ich wollte irgendetwas auf meinem Smartphone recherchieren, vielleicht, was es im Ort an Sehenswürdigkeiten gab, die wir noch nicht gesehen hatten. Genau in dem Moment, in dem mein Smartphone wieder eine Datenverbindung hatte, rollte hintergründig eine Lawine los, die mich mit einem Schlag erreichte: Unzählige Push-Nachrichten stürmten auf mich ein und verlangten nach meiner Aufmerksamkeit, versuchten, mich von dem, was ich eigentlich wollte, abzulenken, und natürlich gelang es ihnen. Was für ein Wahnwitz! Das war etwas, das sich jahrelang schleichend aufgebaut hatte, in das ich ziemlich blind hineingerutscht war. Hier ein Kontakt, dort ein Kontakt, noch eine App und noch eine, und am Ende ist es dann dieser Orkan, der einen umpustet, wenn man das alles einmal für ein paar Stunden von sich fortgehalten hat und anschließend die Daten wieder einschaltet, weil man es kann.

Mir wurde damals in der Ukraine klar, dass ich das alles nicht mehr wollte: Schluss mit dem ständigen Angepushtwerden! Selbst das Wegwischen, und die meisten Nachrichten wischte ich sowieso nur weg, kostet ja Energie, weil es einen den ganzen Tag über immer und immer wieder unterbricht und man trotzdem zumindest kurz schaut, was es ist, das da angeflogen kommt und drängelt, man liest die Worte, vielleicht nur ein paar wenige, aber die Worte sind damit schon im Kopf und haben dessen Zustand verändert, und selbst, wenn man nicht auf eine Nachricht klickt, hat einen das alles aus seinem natürlichen Fluss herausgerissen.

Dass man sehr genau aufpassen muss, was man in seinen Kopf lässt, war übrigens schon dem großen Denker Platon klar. Und so kann man auch in der voluminösen Platon-Biographie von Thomas Alexander Szlezák lesen, dass der wohl wichtigste Philosoph überhaupt wusste,

Zitat:

daß man bei der ‹Nahrung› der Seele – anders als bei körperlicher Nahrung – keine Möglichkeit hat, sie vor dem Erwerb auf ihre Verträglichkeit zu prüfen, da die ‹Prüfung› schon identisch ist mit der Aufnahme


Ja, dachte ich mir, als ich diese Aussage im späten Herbst las, das gilt vor allem auch für den Schmutz, mit dem man beim Scrollen durch die diversen Feeds von Social Media-Plattformen konfrontiert wird. Schmutz hier, Schmutz dort, Schmutz überall – von Kreml-Parteien á la AfD und BSW, Russenbots, Selbstentblößern usw. usf., summa summarum Zeit-, Nerven- und Ressourcenräubern.

Wer sich ständig anpushen lässt oder sich auf algorithmenbasierten Feeds in langen Sitzungen fast zu Tode scrollt, gibt ein gewaltiges Stück Kontrolle über sein eigenes Leben ab. Ich rede hier nicht von tatsächlich lebenswichtigen Informationen wie Hinweisen zu heraufziehenden schweren Unwettern oder Warnungen bezüglich drohender Luftangriffe der russischen Völkermörder, was aber kümmert mich in einem beliebigen Moment, was gerade ein arrivierter Politologe auf X abgesondert oder wo weit weg von mir die Erde gewackelt hat, wie irgendein Fußballspiel ausgegangen ist, dass ein Ex-Kollege mit Führungsambitionen seinen frierenden Hintern im Winter in einen eiskalten See gehalten hat, was es für neue Produkte meiner Lieblingsmarke gibt oder welche Dinge, die ich mir irgendwann einmal angeschaut habe, im Preis gefallen sind?! Ich sage nicht, dass das alles generell vollkommen irrelevant ist, und ich bin weit entfernt von einigen meiner Zeitgenossen, die sagen: Lasst mich doch um Himmels Willen ganz in Ruhe mit euren Nachrichten zum Weltgeschehen, mich interessiert nicht, was da draußen passiert, weil es mich sowieso nur runterzieht. So bin ich auf keinen Fall, aber ich habe gelernt, dass es für mich gesünder ist, mir selbst die Nachrichten genau dann zu ziehen, wenn ich dafür Zeit habe, am besten regelmäßig zu bestimmten und vor allem begrenzten Zeiten. Ich bin schließlich kein Freiwild, auf das jeder, dessen Angebote ich in der einen oder anderen Form wahrnehme, seinen Informationsdreck rund um die Uhr abschießen kann, und daher bin ich auch froh, dass es mittlerweile entsprechende strenge gesetzliche Regelungen gibt, so ist beispielsweise meine ausdrückliche Zustimmung zu einem Newsletterabonnement erforderlich, und ich darf sie auch jederzeit wieder zurückziehen, wobei mir das Zurückziehen sogar leicht gemacht werden muss.

Ich habe damals in der Ukraine bis auf wenige Ausnahmen alle meine Pushnachrichten abgestellt und das Aufräumen später zu Hause fortgesetzt. In einem meiner Postfächer sammelten sich tausende E-Mails, zumeist Werbung oder irgendwelche belanglosen “Updates”. Nur ein Beispiel: Vor ein paar Jahren habe ich ein einziges Mal etwas bei einem Bekleidungsgeschäft bestellt – und seitdem mehrere Hundert E-Mails von ihm erhalten. Wie unverhältnismäßig!! Und ja, das kann man doch wirklich nur noch Wahnsinn nennen! Ich habe alle diese nie gelesenen E-Mails gelöscht und mich endlich aus dem Verteiler ausgetragen, denn wie ich oben schon recht ähnlich schrieb, sind auch die Nachrichten, von denen man nur den Absender und/oder den Titel wahrnimmt, in der Masse bereits eine gehörige Belastung und Ablenkung.

Wir sind verantwortlich für das, was in unserem Kopf ist. Das klingt hart und ein wenig zu absolut, und doch ist es eine Wahrheit. Natürlich kann es starke äußere Einflüsse geben, welche die Inhalte unserer Gedanken zu großen Teilen bestimmen, aber mitverantwortlich sind wir doch, schon weil es in unserer Macht liegt, die Gedanken zu steuern. Wir dürfen darüber durchaus glücklich sein, denn diese Mitverantwortlichkeit für unsere Gedanken ist nämlich ein wunderbares Geschenk: Sie ist ein wichtiges, sehr effektives Mittel, um unsere persönliche Freiheit zu realisieren – selbst oder gerade wenn wir in bestimmten, vielleicht sogar extremen und eigentlich unerträglichen physischen Situationen gefangen sein sollten.

Veröffentlicht am 08.02.2025

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