Uns Nachgeborenen wird vieles einfach gemacht: Bevor wir überhaupt das
Licht der Welt erblicken, sind die meisten Geschichtsurteile schon so klar
und einleuchtend festgeschrieben, so dass es scheint, als müssten sie, wenn
unser Geist reif genug ist, sich damit zu befassen, kaum mehr geprüft oder
hinterfragt, geschweige denn revidiert werden, aber nicht immer kann man
sich damit begnügen, nur wie ein schöner Schwan an der lauen Oberfläche zu
bleiben – ohne je in die Tiefen hinabzusteigen! Die Neugierde, die einen
kritischen Geist treibt, will selber Quellen und Ursachen sehen, auch wenn
sie voller Schmutz und Unrat sein sollten, und bei diesem Abstieg zu ihnen
wird man nicht umhin können, sich den Kopf nass zu machen und sich dem
vielleicht beängstigenden Druck der Tiefe auszusetzen.
Diese Quellen können so unappetitliche Primärschriften wie Adolf Hitlers “Mein Kampf” sein – ich habe nie mehr geschafft, als nur mal einen Absatz hier und dort
von diesem wirren Zeug zu lesen und bewundere Analytiker, die sich größere
Textbrocken, ja, das gesamte Werk zugemutet haben. Was ich aus dieser
dünnen Lektüre immerhin gelernt habe, war, zu erkennen, dass man von Leuten
gewählt werden kann, denen es egal ist, ob man ein durch und durch
miserables Buch geschrieben hat, in dem man Verbrechen ankündigt, die man
künftig zu begehen vorhat. “Das Kapital” hingegen habe ich immerhin bis zum dritten Band gelesen, aber auch das war
nicht sonderlich ertragreich, und wieder habe ich jemanden wie Karl Popper bestaunt, der sich in “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” ganz ernst, intensiv und sachlich mit den Marxschen Argumenten
auseinandergesetzt hat, aber das war natürlich auch noch in einer gänzlich
anderen Zeit, in der Hochzeit des Totalitarismus, in der die ganze Welt in
die Dunkelheit abzustürzen drohte – wie sie es nun, zur zweiten Amtszeit
Trumps, wieder tut. Sicherlich könnte man sich auch heute noch mit einem
ähnlichen Aufwand, wie Popper ihn betrieben hat, an die Hauptschrift von Karl Marx setzen, aber man wird dabei wenig Neues entdecken und danach zu sagen
haben. Es schadet nicht, “Das Kapital” kritisch zu lesen und sich zu
fragen: Wie konnte dieses Werk für so viele Menschen eine Autorität werden?
Und hat diese einmal erlangte Autorität nicht dafür gesorgt, dass sich ihr
immer mehr Menschen unterworfen haben und so auch eine Tradition begründet
wurde? Wie häufig haben wir es bei Schriftwerken der sogenannten
Weltliteratur mit einer konstruierten Größe zu tun, die viele einfach blind
akzeptieren, weil sie sich selbst als so viel kleiner empfinden und durch
das Übernehmen der tradierten Wertschätzung anderer wohl hoffen, ein wenig
an dieser Größe zu partizipieren, zumindest jedoch, nicht negativ als ungebildet aufzufallen!
Propaganda und totale Herrschaft
Mehr als nur beunruhigt über die Erfolge des Rechtspopulismus in den bisher
freiheitlich-demokratischen Teilen der Welt, insbesondere aber auch über
die verheerenden Angriffe, die der von Putin geführte russische Faschismus
auf andere Staaten dieser Welt seit vielen Jahren verübt, und neuerdings
ebenso beunruhigt wie bekümmert über den sich immer stärker abzeichnenden
Verfall der Demokratie in den USA, habe ich mittlerweile viele Schriften
über den Aufstieg der Nazis und über Propaganda gelesen, nicht zuletzt
endlich auch Hannah Arendts “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”, dessen vollständige Lektüre ich mehr als 20 Jahre vor mir hergeschoben
habe. Eine Lektüre, die mich unter anderem auch zu Siegfried Kracauer brachte, der sich sehr extensiv mit der Nazi-Propganda beschäftigt und
viele ihrer Artefakte analysiert hat.
Kracauer befasste sich auch mit den Verlautbarungen Gregor Strassers, die
mir bis dahin in dieser Deutlichkeit nicht geläufig waren. Durch die
Zitate, die ich bei Kracauer las, ergab sich mir plötzlich ein ganz neuer
Blick direkt in eines der Herzen der nationalsozialistischen Finsternis,
das überraschenderweise nicht vollkommen ungebildet war. Ein
Intellektueller war Strasser dennoch keinesfalls, dafür war sein
Argumentieren zu plump, aber er war doch weitaus origineller und
wortmächtiger als der zeitgenössische rechte populistische Rand in
Deutschland, der dieser Tage danach trachtet, die Erfolgsgeheimnisse der Nazi-Propaganda zu extrahieren, um sie für seinen eigenen “Kampf um Deutschland”
einzusetzen. Ganz erfolglos sind die Rechtspopulisten, was die Wahlumfragen und -ergebnisse zeigen, leider nicht, so dass auch
für ihre Gegner eine Motivation gegeben ist, sich erneut damit
auseinanderzusetzen, wie im 20. Jahrhundert ein großer Teil des Volkes dazu
gebracht werden konnte, braun zu stimmen. Dass die Braunen wie heute die
Hellblauen nicht sonderlich auf Logik, stimmige Argumente und Rechnungen,
ja, überhaupt den gesunden Menschenverstand, sondern auf ihre eigenen
empörenden Erzählungen und vagen Versprechungen einer unheimlich besseren
Zukunft, die radikale Schritte erfordert, gesetzt haben bzw. setzen, die
mehr die Herzen als die Köpfe der Menschen erobern, liegt fast auf der
Hand, dafür muss man nicht in die Tiefen steigen. Es ist ein Erfolgsrezept,
das auch klügere, bis dahin integre Politiker dazu verleiten kann, sich auf
diese schiefe Bahn zu begeben, wenn sie nämlich merken, dass sie mit
ehrlicher Arbeit kaum noch einen Ertrag erzielen, vielleicht mit ihrer
Partei nicht einmal mehr in das Parlament einziehen. Im Vorfeld der
vorgezogenen Bundestagswahlen 2025 hat es sich bereits hier und dort
gezeigt, dass so manch einer dieser Versuchung schon ein Stück weit erlegen
ist:
Warum selber sauber schuften, wenn man mit Dreck ganz einfach in ungeahnte
Höhen fliegen kann, weil einen das willige Wahlvolk dorthin trägt?
Die Reden von Gregor Strasser
Der oben erwähnte “Kampf um Deutschland” ist auch der Titel der gesammelten Reden (1924-32), in denen man Gregor
Strassers recht klar umrissene Gedankenwelt nachvollziehen kann: Die dort
immer und immer wieder vorgetragenen Themen sind der “Dolchstoß”, der
Vertrag von Versailles und die ihm folgenden Verträge, die Deutschland nach
seiner Ansicht ruiniert haben und noch auf Jahrzehnte ruinieren werden, ein
tiefer und grundsätzlicher Hass auf alle Juden und die Welt des Kapitals,
die er mit ihnen in eine ganz enge Verbindung bringt, und auf die Verräter
des Vaterlandes verschiedenster Couleur usw. usf.
Im Grunde war Gregor Strasser ein nationalistischer Romantiker, dessen
Selbstverständnis durch den Ersten Weltkrieg und die deutsche Niederlage
früh erschüttert worden ist. Er gehörte zu jenen, die nach der totalen
Mobilisierung der Gesellschaft von 1914 bis 1918 nicht in ein normales Leben zurückfanden: Diese totale Mobilisierung der Gesellschaft wurde
Strasser zum wünschenswerten Normalzustand, der wieder erreicht werden
musste – auch in Friedenszeiten.
Strasser zeichnete sich durch eine kompromisslose Radikalität aus, für die
Gewalt immer ein legitimes Mittel war, ihre Ziele zu erreichen. Die
starrsinnige und extrem intolerante Ideologie, die er selbst verbreitete,
war ihm, das kann man mutmaßen, ein zentraler Halt, war seine große und
wahrscheinlich einzige Hoffnung, dass es in seinem Leben noch einmal besser
werden würde. Strasser war in den unruhigen Zeiten nach dem Ersten
Weltkrieg Paramilitär, 1923 hat er sich am Hitlerputsch beteiligt, nach der
Neugründung der NSDAP im Jahr 1925 wurde er ein führendes Mitglied “der
Bewegung”. Koste es, was es wolle: Die Niederlage im Ersten Weltkrieg
sollte irgendwie weggewischt, die bedrückende Schmach, der Deutschland und
damit jeder Deutsche, der wie Strasser fühlte, ausgesetzt war, endlich
getilgt werden! Der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 war Strassers
Stunde Null – wieder und wieder erinnert er über viele Jahre hinweg an
dieses schändliche Datum, aber es war nicht das einzige: Auch die Ausrufung
der Republik in Deutschland am 9. November 1918 war für Strasser eine
Zäsur, die geheilt werden musste. Strasser wollte, dass Deutschland wie die
Sonne wieder aufgeht, aber nicht als die gleiche schon bekannte, er
erhoffte und wünschte sich eine andere, denn an einer Restauration der
vorrepublikanischen Zustände war ihm keineswegs gelegen.
Einblicke in die Dunkelheit
Im Folgenden möchte ich einige bemerkenswerte Passagen präsentieren, die
mir beim Lesen von Strassers Reden aufgefallen sind. Im ersten Zitat redet
Strasser von seinem Weltbild, das für einen Menschen seiner Anlage und
einer ähnlichen Biographie nur eine Kritik am Status Quo sein konnte und
das – wie hier zuvor bereits gesagt – nahelegt, dass er ein nationalistisch
gesinnter Romantiker gewesen ist, weil er Geist und Wissenschaft sowie Geld
und Wirtschaft in ihre Schranken weisen wollte, da sie aus seiner Sicht zu
mächtig, zu bestimmend geworden waren und der “reinen Innerlichkeit” und den “nationalen Idealen” keinen Platz mehr ließen – was vielleicht nur zwei ein wenig hilflose
Chiffren sind für “einen Menschen wie Gregor Strasser”:
Zitat: Die Überschätzung des Geistes und der Wissenschaft hat sich in eine Überschätzung des Geldes und der Wirtschaft gewandelt; die gefühlvolle Betonung reiner Innerlichkeit und der nationalen Ideale ist um einige Grade schwächer geworden und hat einer stärkeren Betonung der gutbürgerlichen Eigenschaften, wie Ruhe und Ordnung, Platz gemacht. Ruhe und Ordnung, denen zu Liebe Forderungen der Ehre, des Charakters zurücktreten müssten!
Gregor Strasser war der wohl bedeutendste Kopf des von vielen als links
bezeichneten Flügels der Nationalsozialisten, der nach seinen Begriffen
tatsächlich einen Sozialismus jenseits der Kommunisten und
Sozialdemokraten, die er beide als Teilströmungen des Marxismus verstand,
anstrebte. Anfangs zog Joseph Goebbels noch am selben Strang wie Strasser,
Goebbels aber, der zeitweilig sogar das bolschewistische Russland
bewunderte, emanzipierte sich ab 1926 fortwährend und wurde enger mit Adolf
Hitler.
Es sind vielleicht Worte wie die folgenden, die nach unzähligen Wanderungen
und Verdrehungen dazu geführt haben, dass sich im Jahr 2025 eine Alice Weidel von der AfD öffentlich hinstellen und ohne die Blamage zu fühlen behaupten konnte,
Hitler wäre ein Kommunist gewesen, obwohl es ja, wenn man schon tumb Etymologie betreibt, Nationalsozialisten und nicht Nationalkommunisten waren und Hitler sowieso wenig von Strassers anti-bürgerlichem Kurs hielt,
was er in der Nacht der langen Messer mit tödlicher Finalität deutlich machte. Maßgeblich für eine Einordnung
sind am Ende sowieso nicht die Etiketten, die sich die Nationalsozialisten
selbst angeheftet haben, sondern die Ziele, die sie vertraten, und die
Taten, die sie begingen. Die Alternative für Deutschland ist ja auch keine
realistische und wünschenswerte Alternative, obwohl sie sich Alternative
nennt.
Zitat: Wir Nationalsozialisten sind Sozialisten, echte, nationale, deutsche Sozialisten! Wir lehnen die Verflachung dieses Begriffes, die Abschwächung dieses Wortes in „sozial“ ab, das wie kein anderes ein heuchlerischer Deckmantel geworden ist, mit dem die allzu sichtbar gewordenen Blößen des kapitalistischen Wirtschaftssystems verdeckt werden oder das bestenfalls der völlig unzureichende Trost solcher ehrlicher Menschen ist, die da glauben, durch Auflegung eines mitleidigen Pflästerchens die schwärenden Wunden am Körper der Wirtschaft und des Volkes heilen zu können. Nein, wir sind Sozialisten und scheuen uns nicht, das Odium dieses Wortes auf uns zu nehmen, das der Marxismus so fürchterlich entstellt hat.
In seinen Reden berauscht sich Gregor Strasser am Klang seiner eigenen
Worte, die fast immer irgendetwas Großes oder Kleines, Starkes oder
Schwaches, Hohes oder Tiefes, Gutes oder Böses bezeichnen und
gegeneinandersetzen, manchmal auch vereinen wollen. Es ist eine
rasiermesserscharf konturierte Gesamtanschauung mit klaren Koordinaten, die
einen in diesen Reden in endloser Wiederholung anspringt, und es ist
vielleicht sogar eine Art holzschnittmäßige politische Poesie in Redeform,
die zum Weltersatz wird: Was das Wort darstellt und verspricht, wird
mächtiger als die Wirklichkeit, weil es nie nur den Status Quo beschreibt,
sondern immer auch eine Verheißung predigt. Strasser ist für das Große,
Starke, Hohe und Gute – das Kleine, Schwache, Tiefe und Böse lehnt er ab,
und die Zuschreibungen, was also als was zu gelten hat, nimmt er gemäß
seiner trüben Weltanschauung selbstverständlich selbst vor.
Ganz ähnlich klingt es hier, wenn sich Strasser auf ein nicht näher
begründetes, exklusives Wissen bezieht:
Zitat: Solange die Gewerkschaften statt deutscher Arbeiterpolitik marxistische Parteipolitik betreiben, finden sie in uns erbitterte Gegner. Denn wir Nationalsozialisten wissen, dass der Weg zum Sozialismus, wie zur deutschen Freiheit, die allein den Sozialismus verbürgt und erhält, nur über die Leiche des Marxismus und der Sozialdemokratie führt. Wir aber wollen den Sozialismus!
Es ist eine einfache, aber sehr verführerische Rhetorik einer
vermeintlichen Überparteilichkeit, die immer wieder aus Strassers Reden
spricht, die so ähnlich schon ein gewisser Religionsstifter für sich in
Anspruch nahm, der einen neuen Glauben bei seinen Anhängern als überhöhende
Synthese, als Siegel der Propheten etablieren konnte. Es ist eine
verbrüdernde Rhetorik, mit deren Hilfe es sogar gelang, ehemalige
Kommunisten für die SA zu gewinnen. Die gesellschaftliche Spaltung, die
politischen Widersprüche sollten aufgehoben werden, weil alle Volksteile
eigentlich dasselbe wollten und Brüder waren und es nur noch nicht erkannt
hatten. Die Verschmelzung, das Einswerden des gesamten deutschen Volkes war
letztlich das erklärte Ziel – dabei konnte und kann dieses Einswerden doch
immer nur der Tod sein, denn das Leben an sich ist vielfältig und verliert
an Kraft, wenn es in der totalen Herrschaft zuerst verklumpt und dann vom
Diktatoren zu einer glatten Kugel geformt wird: Es geht in Leiden über und
verschwindet allmählich. Aber das wusste Strasser nicht, wenn er wie folgt
fragte:
Zitat: Warum stehen sich gegenüber 30 Millionen Deutsche „links“ — und 30 Millionen Deutsche „rechts“ gleich ehrlich und anständig in ihrer Gesinnung, gleich fleißig und unermüdlich in der Arbeit, gleich bedrückt von gemeinsamer Not und Sorge?! ? Ich will es euch sagen, deutsche Volksgenossen von „links“ und „rechts“, damit ihr prüfen könnt und euch entscheiden. Das ist eine Frage, die wie mit Blitzesschnelle das Dunkel dieses scheinbar so unbegreiflichen Bruderkampfes erhellt: „Wem nützt dieser Bruderkampf dieses deutschen schaffenden Volkes?\"
Die NSDAP sollte vielmehr eine Bewegung als eine Partei sein. Partei – das
war Trennung, das war Parlamentarismus, und der war für Strasser wenig mehr
als Geschwätz, das die grundlegenden Probleme, die er sah, nicht beheben
würde. Dass er selber im Parlament saß und dort seine Reden schwang, war,
wie er zugab, nur Mittel zum Zweck, und das haben die Nazis nach der
Machtergreifung auch eindeutig bewiesen. Sie wollten nicht nur schwärmen
und schwatzen, sondern ihre menschenfeindlichen Ideen tätlich und
schnellstmöglich umsetzen.
Die Ausschaltung des Juden aus dem deutschen Leben
Der Antisemitismus ist bei Strasser ein unhinterfragter Grundton, eine
ätzende Konstante; in dieser Sache ist er ganz bei Hitler, mit dem er sonst
doch in einigem uneins war, was wiederum einer gewissen Ironie nicht
entbehrt: Auch unter Nationalsozialisten entspannen sich also Bruderkämpfe,
aber am Ende konnte und durfte es nur einen einzigen Führer geben, dem sich
alle anderen unterordnen zu hatten. Nur so war das erstrebte Einswerden des
deutschen Volkes zu erreichen.
Dass Strasser tatsächlich die Juden nicht verfolgen wollte, wie er
nachstehend behauptet, darf man stark anzweifeln, denn er widerlegt sich ja
schon im zweiten Teilsatz selbst – ohnehin sind fast alle Setzungen, die
mit einem dicken “aber” daherkommen, fast immer abzulehnende rhetorische
Finten, die ihre Schäbigkeit nur dürftig maskieren können (“Ich mag Putin
nicht, aber …”):
Zitat: Wir wollen keine Judenverfolgung; aber wir fordern die Ausschaltung des Juden aus dem deutschen Leben.
Natürlich wollte Gregor Strasser auch keinen neuen Krieg, jedenfalls nicht sofort, aber eine Wiederaufrüstung war schon notwendig in einer Welt, in der andere
aufrüsteten:
Zitat: Wir wollen keinen neuen Krieg; denn wir wissen, dass Europa und die Welt nur gesunden können, wenn die führenden alten Kulturvölker wieder in sich gesunden.
Gregor Strasser hat, wie auch im Stalinismus üblich, einen neuen Menschen
gefordert, aber vielleicht geht das alles doch auf Nietzsche oder noch viel
weiter (Hesiods Prometheus-Mythos) zurück, links wie rechts, wobei sich
Strasser ja eher auf einem dritten Weg gesehen hat, der beides in die
Synthese, die ultimative Verschmelzung führt:
Zitat: Wen also wollen wir? Nicht den „Bürger“ und nicht den „Proletarier“, so wenig wir den Staat des Bürgers, noch den Staat des Proletariers wollen! Wir wollen den neuen Menschen, wir wollen den Staat dieses neuen Menschen, der aus dem Bürgertum herausholt in geläuterter Reinheit die aus den Tiefen des Blutes kommende Idee des Nationalismus — und aus dem Proletarier herausholt die aus dem durch Bedrückung doppelt stark ausgebildeten Gerechtigkeitsgefühl geborene Idee des Sozialismus
Gregor Strasser hat viel gewollt, geträumt – und vor allem auch gehasst.
Reale Probleme wie der nicht sonderlich kluge Versailler Vertrag oder der
dramatische Niedergang der deutschen Wirtschaft ab 1929, die zu sehr an
US-amerikanische Kredite gekoppelt war, mögen ihn motiviert haben, seinen
politischen Weg immer weiter zu gehen, aber er hätte nicht unbedingt die
Konsequenzen daraus ziehen müssen, die er daraus zog. Strasser hat seine
dunkle Wahl getroffen.
Am Wachsen der Bewegung und schließlich am Gelingen der Machtergreifung hat
Gregor Strasser maßgeblich Anteil – und damit trifft ihn eine Mitschuld an
allem nahezu unsagbaren Unheil, das die Nationalsozialisten während ihrer
Herrschaft und auch davor schon angerichtet haben.
Der Einheit des Volkes, die Gregor Strasser propagierte, stand er selbst im
Weg und so wurde er Opfer seiner eigenen Theorie, als ihn der einzige Führer der Bewegung am 30. Juni 1934 vielleicht auch ein wenig stellvertretend für seinen
Bruder Otto, der von Prag aus die gegen Hitler gerichtete Organisation
“Schwarze Front“ leitete, umbringen ließ.