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Mein Vater, die Bäume und die DDR

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Eine Schwarzweißfotografie aus der DDR Ende der 1970er, möglicherweise auch Anfang der 1980er Jahre: Ein schlanker, junger Mann in seinen frühen Dreißigern, mit Gummistiefeln, dunkler Kleidung, langen Haaren, Vollbart - hält den Stamm eines Baumes, der in einer Straße in meiner Heimatstadt N* eingepflanzt wird. Dieser junge Mann ist mein Vater. Der Vollbart steht ihm wie eine Ritterrüstung im Gesicht, als Kind habe ich mich vor ihm immer gefürchtet. Wann er ihn sich wohl hat wachsen lassen? Vielleicht nach dem russischen Einmarsch in Prag 1968, vielleicht später, vielleicht früher.

Das Foto zeigt ihn auf einer der Baumpflanzaktionen, die er als evangelischer Diakon unter staatlicher Duldung organisiert hat. Ich erinnere mich, wie ich als kleines Kind auch bei einer Aktion dabei war. Es war kalt, der Boden ziemlich hart. Ich konnte als Knirps mit meinem riesigen Spaten nicht viel ausrichten, aber es herrschte eine ganz besondere Atmosphäre: Hier geschah etwas wichtiges; so viel konnte ich schon verstehen. Bäume sind schön und nützlich, sie können unsere eigene Existenz überdauern. Wenn Du einmal stirbst: Wieviele Bäume, die Du gepflanzt hast, stehen dann noch auf der Erde? Heute musst Du nicht einmal mehr selber den Spaten anfassen, Du kannst nahezu überall auf der Welt Bäume spenden …

Die Bäume, die mein Vater mit seiner jungen Gemeinde vor etwa 40 Jahren gepflanzt hat, stehen auch noch heute in der Stadt. Das ist etwas, worauf er und die Menschen, die mitgeholfen haben, stolz sein können. Selbst die DDR-Behörden, die sonst an der Zersetzung meines Vaters und seiner / unserer Familie arbeiteten, mussten seine Leistung anerkennen. Die Plakette “Schöner unsere Städte und Gemeinden”, die lange Zeit in seiner Garage hing, zeigt er nur zu gern seinen Gästen. Einem Individuum konnte sie nicht zuerkannt werden, in der DDR gab es ja schließlich keine handelnden Individuen, einer kirchlichen Organisation erst recht nicht, deswegen wurde sie der “Brigade B*” verliehen. Eine Anekdote, die mein Vater nur zu gern erzählt. Man kennt das von älteren Leuten: An manche Dinge erinnern sie sich am liebsten. Das ist wie mit Reich-Ranickis einzigem Schuss, den er im Zweiten Weltkrieg abgefeuert hat: Er hat immer und immer wieder von diesem Freudenschuss erzählt.

Eine edle Moral besessen und auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben, ist ein kleiner Trost, sicherlich auch für meinen Vater. Letztlich haben Täter und Opfer sowie ihre Familien nachhaltige Wunden aus der Zeit der Diktatur und danach davongetragen. Wer als Täter schlau war, lindert(e) seinen Schmerz mit materiellen Gütern, die Opfer schauen dem längst erloschenen Feuerwerk ihres kurzen Triumphes hinterher. Die Erde hat sich seit dem Untergang des Kommunismus schon so viele Male weitergedreht. Nichts ist vergessen, aber die Tagesaufgaben sind inzwischen andere, wenn auch nicht vollkommen andere: Irgendwo auf der Erde ist immer der richtige Zeitpunkt, um Bäume zu pflanzen.

Veröffentlicht am 08.08.2020

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