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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Aus dem Tagebuch eines Anti-Literaten

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Alles, was ich schreibe, gilt es vor der Veröffentlichung ordentlich zu prüfen, also auch, ob ich wirklich schon vom Spätsommer reden kann oder ob er erst später im Sommer eintritt. Ich kann es wohl, aber ganz sicher bestimmen lässt es sich nicht; Fehler schleichen sich sowieso immer ein, und vielleicht ist auch die ganze Schreiberei ein einziger großer Fehler, aber es gibt keine Instanz außer mir, die das maßgeblich festlegen könnte, weil es meine Wahl und Entscheidung ist.
Es war auf jeden Fall ein durchweg regnerischer Sonntag, der sich nicht durch besondere Freundlichkeit ausgezeichnet hat. Die Ringelblumen auf dem Balkon stehen in letzter Blüte, hellgelb und auch dunkelorange. Hummeln, Schmetterlinge, Bienen haben sich heute nicht blicken lassen. Die Chili-Pflanzen, verschiedene Sorten, sind reif und recken ihre zumeist noch grünen Schoten in den Himmel; die Sonne wird sie röten. In Nikolai Berdjajews “Russischer Idee” (1946) habe ich noch einmal zurück zu der Stelle geblättert, wo er den abtrünnigen Wladimir Petscherin (1807–85) zitiert: “Wie entzückend ist es, sein Vaterland zu hassen” und nach dem russischen Originaltext gesucht, um ihn zu übersetzen; dafür reicht das Schul-Russisch noch, aber auch hier warten immer Fehler auf der ganzen Länge der Worte, damit man sie begeht: Am Anfang, in der Mitte, am Ende. Dazu im ukrainischen Lemberg gerösteten Kaffee, den ich neulich in einem “slawischen Geschäft” in Danzig unweit der dortigen ukrainischen Kirche erworben habe. Petscherins Memoiren muss ich irgendwo auftreiben, ganz billig sind sie leider nicht und für den Preis, der verlangt wird, auch sehr schmal. Petscherin ist eine Gestalt, welche die Gemüter auch heute noch erregt, er kommt sogar in einem Dialog bei John Le Carré vor, und zwar in seinem “The Russia House” (1989) – in einem Atemzug mit Goethe; es ist jedenfalls interessanter, als ich gedacht habe. Das kann man sich als Leichtlektüre für später einmal vormerken. Im russischen Internet diskutiert man Petscherin auch, natürlich abfällig, wahrscheinlich, weil er als Typ eine fortwährende Gefahr ist: Ein Russe, der sich von Russland für immer abwendet, weil er es für ein gottloses oder heute eher menschenfeindliches Land hält, was ja durchaus zusammengeht, wenn man sich vorstellt, welche Art von Christentum in Russland gepredigt wird und sich die KGB-Priester, die Massenvernichtungswaffen weihen und preisen, vergegenwärtigt sowie über die russischen Kriege und Binnenverhältnisse im Bilde ist.
Zwischendurch Tomatensalat mit nativem Olivenöl, roten Zwiebeln, Mozzarella und mickrigem Topfbasilikum aus dem Supermarkt. Weißer Tee “Tai Mu Long Zhu” in kleinen grünen Bällchen; die Bällchen sind sicherlich überbewertet, normaler Blattschnitt tut es auch. Irgendwann Joggen bei konstantem Nieseln, zum Schluss kaum noch etwas durch die nassen Brillengläser gesehen. Anschließend ein warmes Schlammbad, vielleicht einen Schluck Sherry, der eine ähnliche Farbe hat wie das Wasser aber viel dickflüssiger, klebriger und süßer ist, dazu das beruhigende höfische Gedudel der artig geformten Stücke in Jean-Baptiste Lullys Oper “Proserpine” (1680), einer lyrischen Tragödie. Dieses Album zu finden, war damals ein Glückstreffer, weil ich den Namen des Komponisten noch nie gehört hatte. Wenn man im deutschsprachigen Internet sucht, sieht man, dass die Leute vor allem sein seltsamer Tod beschäftigt: In einem Wutanfall soll er sich einen schweren Taktstock in den Fuß gerammt haben und an den Folgen dieser Verletzung gestorben sein. Das also war das Ende des Komponisten und Hofdirigenten des Sonnenkönigs Ludwig XIV.; da ich kein Dirigent bin, würde ich eher ein stoffummanteltes Gitarrenkabel mit Goldklinken für einen stilvollen Abgang wählen, aber bitte, liebes Tagebuch, vergiss es sofort wieder: Es ist überhaupt nicht mein Ziel, dass man nach meinem einstigen Ableben über mich redet.
Viel nachgedacht über das Schreiben, auch das nächste vermaledeite Buch, das sich zieht, weil es keinen Spaß macht, daran zu arbeiten und zu viele schlechte Erinnerungen hervorruft. Vielleicht ein Hinweis darauf, damit aufzuhören – und dann tauchen doch immer wieder diese Gestalten in den Medien auf, die aus der DDR-Verklärung ein einträgliches Business gemacht haben. Das kann nicht ohne Echo bleiben, auch wenn niemand auf meinen bescheidenen Beitrag zum Thema wartet.
Phad Kaphrao, ein Thai-Gericht, aus der Pfanne zum Abendbrot.
“Tatort” immer noch nur Wiederholung, also bleibt der Fernseher aus.
Gute Nacht, liebes Tagebuch – und erzähl das alles bitte niemandem weiter.

© 2023 by Arne-Wigand Baganz

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