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© 1999-2025 by Arne-Wigand Baganz

Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Kinderfeld

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  • Was tust Du da, alter Mann ? 
  • Junge, siehst Du denn nicht, daß ich Samen säe. 
  • Warum machst Du das ? 
  • Das ist ganz einfach : damit ich in ein paar Monaten eine dicke Ernte einfahren kann. 
  • Damit Du ganz viel zum Essen hast ? 
  • Ja, genau, mein Kleiner. Und nicht nur ich werde davon satt werden, sondern noch viele andere Menschen. 
  • Viele andere Menschen sind doch gar nicht mehr hier.

Der Alte zuckte mit den Schultern, ehe ihm ein "Doch" durch seine brüchigen Lippen hindurch entfuhr. Seine Augen hatten schon lange ihren Glanz verloren – und nun schaute er in seiner Kurzsichtigkeit auf den armen Jungen herunter, der so viele Fragen zu stellen hatte. Der Kleine war ein richtiger Lausebengel mit struppigem Haar und dreckiger, zerschlissener Kleidung, aber irgendwie mochte ihn der Alte. 

  • Junge, warum spielst Du nicht mit den anderen Kindern ? Hier draußen auf dem Feld gibt es doch nichts für Dich und ich muß auch weiter arbeiten, sonst wird es nichts mit der Ernte. 
  • Die anderen Kinder sind alle weg. 
  • Das kann gar nicht sein, hier sind immer viele Kinder: freche Jungen, die mit ihren Fußbällen durch die staubige Dorfstraße sausen und manchmal die Scheiben zerschießen; Mädchen, die auf den Hinterhöfen seilspringen, schnattern und gackern. Also los, lauf zurück ins Dorf. 
  • Aber das Dorf ist weg, es ist nicht mehr da.

Langsam begann es dem Alten zu dämmern. Seine Sympathie für den Jungen verblaßte, machte einer kleinen Verstimmtheit platz. Der Säer war zwar schon in die Grenzbereiche der Daseinsfrist eines Menschen gedrungen, aber dies hieß nicht, daß er sich von einem Lausebengel hochnehmen lassen mußte. 

  • Soso, das Dorf ist also nicht mehr da. Und was sonst noch ist alles verschwunden ? Deine Eltern vielleicht auch ? 
  • Ja, auch meine Eltern. 
  • Und das Vieh ? 
  • Auch unser Vieh. 
  • Und die Berge hinterm Dorf ? 
  • Die sind noch da, man sieht sie auch hier noch. Schau, da hinten sind sie.

Der Alte blickte in die Richtung, in die der Junge mit seinem winzigen Zeigefinger deutete. Ja, wirklich, da waren die mächtigen Berge hinter einem bunten Streifen, der das Dorf sein mußte.

  • Junge, Du erzählst mir Sachen.

Dann lief der Kleine plötzlich davon.Verwundert sah der Alte ihm ein Weilchen nach und säte danach weiter die Samen für die kommende Ernte. 

Als die Sonne im Zenith stand, war für den Säer wie immer die Zeit gekommen, eine Pause einzulegen. Deshalb machte er sich auf den Weg in das Dorf. Dort würde er das Mittagsmahl zusammen mit seinem treuen Weib einnehmen und sich einen erholsamen Schlaf über die wärmsten Stunden des Tages hinweg genehmigen. Dagegen war nichts einzuwenden, hatte er doch bereits eine nicht geringe Anzahl an Samen in die Erde gebracht.

Unterwegs traf er jedoch auf drei komische Gestalten, die Soldaten waren und dem alten Mann sofort sehr merkwürdig erschienen. Aber erst, als sie schon sehr nah waren, konnte er sie genau erkennen, denn, wie bereits gesagt, war der Glanz aus seinen Augen längst verschwunden und er sah zudem nicht mehr allzu klar.

Einer, sicher der ranghöchste, ritt auf einem Pferd, die anderen beiden gingen nebenher und hatten ihre Mühe, Schritt zu halten. 

Der berittene Soldat hieß sein Roß halten und stieg zu dem Alten herab.

  • Wir waren gerade unterwegs zu ihnen, um ihnen unser Anliegen mitzuteilen. 
  • Was ist das denn für ein Anliegen und was habe ich damit zu tun ? 
  • Es handelt sich um eine Sache, der sie nur zustimmen können. 
  • Da müßte ich aber wissen, worum es sich handelt. 
  • Gewiß, gewiß. Sie haben ja doch keine Wahl. Es geht um ihr Feld. 
  • Um mein Feld ? 
  • Ja, um ihr Feld. 
  • Nun, was ist mit meinem Feld ? 
  • Wir müssen ihr Feld wegen einer wichtigen Angelegenheit beschlagnahmen. 
  • Aber das geht nicht, ich säe gerade für die neue Ernte. 
  • Es wird keine neue Ernte geben. 
  • Warum sollte es keine neue Ernte geben ? 
  • Weil wir – ganz einfach – ihr Feld beschlagnahmen werden. 
  • Das ist nicht möglich. 
  • Oh, es ist sehr wohl möglich und wird auch geschehen. 
  • Dagegen protestiere ich. 
  • Protestieren sie, wenn es sie glücklich macht, sie haben ja doch keine Wahl. 
  • Keine Wahl ? 
  • Keine Wahl. 
  • Wer hat das bestimmt ? 
  • Fragen sie nicht, akzeptieren sie. 
  • Ich verstehe das alles nicht. 
  • Es gibt vieles, was man nicht verstehen kann. Aber darum geht es jetzt überhaupt nicht. Wir brauchen ihr Feld, mehr nicht.

Dann gab er seinen beiden Untergebenen einen müden Wink und sie liquidierten den alten Mann, ohne ihr Tun zu genießen noch zu bedauern.

Sich angeregt unterhaltend, setzten die Soldaten ihren Weg zum Feld fort und waren alsbald auch angekommen.

Es war ein großes Feld und bestens geeignet für die so wichtige Angelegenheit. Mittendrin saß der Lausebengel und sammelte die Saatkörner aus der Erde.

Die Soldaten kamen auf ihn zu und fingen ein Gespräch an.

  • Junge, was tust Du da ? 
  • Seht ihr denn nicht : ich picke die Körner aus der Erde, weil wir keine weitere Ernte brauchen. 
  • Warum braucht ihr denn keine weitere Ernte ?
  • Weil ihr gekommen seid und hier jetzt alle weg sind. Hier hat keiner mehr Hunger. Und auch der alte Mann ist nun tot und das Feld ist vorgesehen für eine große Sache, eine sehr große Sache.

Die Worte des Jungen wurden immer lauter, er krächzte fast nur noch, sprach nicht mehr mit seiner Stimme allein, sondern mit den Stimmen all derer, die hier bald als zusammengeschmissene Kadaverbündel unter dem Feld liegen würden, brach in ein sägendes Heulen aus, rannte stolpernd davon, fiel kurz darauf über einen Stein, blieb liegen und stand nie wieder auf.

Die drei Soldaten sahen all dies mit höchstem Erstaunen und einer ungezügelten Neugier.

Dann klatschte der Ranghöchste unter ihnen in die Hände und es ging an die harte Arbeit, die Verwirklichung der wichtigen Sache.

Die am Pferd festgezurrten Spaten wurden verteilt und das große Graben begann.
 

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