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Wo ist Vater?

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Drei Worte sind es nur, die wie ein zu Klang gewordener greller Blitz plötzlich durch das stumme Schwarz eines unerwartet spätsommerlichen Oktoberabends schneiden:
«Wo ist Vater?» fragt der vier-jährige Maksym / Bohdan / Taras seine Mutter.
Seine Stimme ist fordernd und trotzig.
«Wo ist Vater?» fragt er noch einmal.
Hier in der Berliner Fremde ist er nicht.
Wo ist er?
Durfte er nicht wie der Rest der Familie aus der Ukraine flüchten, weil er im wehrfähigen Alter ist? Sitzt er nun einsam daheim in Ternopil / Schytomyr / Krywyj Rih, wo er immer an seine Familie denkt, morgens, mittags, abends, nachts, sowohl bei Luftangriffen als auch Stromausfällen?
Dient er irgendwo an der Front und versucht wie viele andere mutige Ukrainer, die russischen Horden zurückzuschlagen?
Wurde er verwundet oder gar getötet? Liegt er im Wald in einem Massengrab im Süden oder Osten der Ukraine? Findet man ihn jetzt auf irgendeinem städtischen Friedhof, das Grab geschmückt mit riesigen ovalen Trauerkränzen, die mittig mit bunten Kunstblumen gefüllt sind?
Oder hat die Mutter einfach nur Schluss gemacht mit ihm, weil sie die monatelange Trennung, diese Ungewissheit nicht mehr ertragen konnte?
«Wo ist Vater?» fragt der Kleine ein drittes Mal.
Und seine Mutter bleibt stumm.

© 2022 by Arne-Wigand Baganz

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