"Sag etwas. Sag mir etwas. Sag etwas ! ".
Ihr heißer Mund hauchte mir diese in einer Art der liebevollen Besorgnis gesprochenen Worte in mein rechtes Ohr. Dann küßte sie mich sehr sanft mit ihren kalten Lippen und streichelte behutsam eine meiner Wangen.
Still lag ich da und ließ diese ihre Bemühungen über mich ergehen. Nur unter einer unbeschreiblichen Anstrengung konnte ich meine Augenlider schwach heben. Nicht viel konnte ich erkennen - nicht viel mehr als dunkle und schwammige Schemen, die für mich keinen Sinn formen konnten. Doch mein Gehirn überraschte mich hier. Aus den unassoziierbaren Schemen wuchsen seltsame Kreaturen, die in der gebrochenen Art, in der sich versteinerte Greise bewegten, umherschwirrten, mir zuriefen, mich riefen, an mir zogen, zerrten.
Dies war nicht die Wirklichkeit, aber ich schien in dieser Welt gefangen. Von den Füßen auf durchflutete mich eine wohlige Wärmewelle. Ich spürte, daß dies so etwas wie mein Geist sein mußte, oder nur die Auswirkung seiner erstaunlichen Kräfte, die ich schon seit langem versuchte zu enthüllen. Nur einen Augenblick hatte es den blassen Anschein, daß diese neue Welt in ein mich zermürbendes Chaos zu verfallen drohte. Dann wieder erfasste mich ein Gefühl der unendlichen Klarheit meiner Gedanken, einem Gefühl des Verbundenseins mit allem, was war.
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Sie war noch immer völlig verwirrt. War er gestorben, hier an diesem Ort der größten Freude ? Hatte er sie verlassen, um ein anderes Leben zu beginnen ?
Tränen durchliefen ihr traurig-entstelltes Gesicht, durchzogen die Narben eines wechselvollen Lebens.
Das war das letzte Kapitel einer zu schönen Geschichte. Verzweifelt seufzte das Ende.
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Verwelkte Blumen hängten ihr Antlitz ihrem Tod entgegen. Der Kreislauf würde sich ein weiteres Mal schließen. Anfang und Ende. Re-degeneration. Repitition. Rekapitulation - und ganz geheimer Hohn.
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Der Fotograf drückte den Auslöser. Dies würde bestimmt ein gutes Bild werden, ein Bild, das lebt - Kunst als Gunst des Momentes.
Der Apparat verweigerte sein Funktionieren. Erneut zog der Fotograf den Film auf und überwand dabei einen gemeinen Widerstand, der sich in diesem Lichtbilderzeuger festgesetzt hatte.
Wenig später war der Film gerissen, der Apparat geöffnet und das Geheimnis gelüftet.
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Als dem kleinen Scheibenwischer Pepé das Auto auf den Fuß fuhr, verzog dieser vor Schmerzen sein junges Gesicht und rief laut nach seiner Mutter.
Erbost stieg der Fahrer des Wagens aus, zog den Jungen grob zu sich heran und versetzte ihm eine hinterträchtige Ohrfeige. Dann stieß er den winzigen Wicht auf den Bürgersteig, daß dieser dort aufschlug und sich eine unangenehm blutende Wunde zuzog.
Ein klein wenig erleichtert setzte der Autofahrer dem Hupen der anderen Fahrer hinter ihm, die anderen Scheibenwischern auf die Füße gefahren waren, ein Ende - und leitete seinen schicken Wagen durch das erbärmliche Gewimmel der Metropole.
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Eine verirrte Blume setzte sich auf die Biene. Sehr schnell erkannte sie den Unsinn ihres Tuns und flog fort.
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Die Wärme ließ langsam nach, machte genüßlich einem bitteren, einem bösen Zittern platz.
Meine Knochen vibrierten, sangen das letzte Lied, den letzten Vers. Die letzte Note ist immer die beste. Klingt sie aus, klingt sie fort nach irgendwohin. Nachklang. WummOng !!! Aus der Ferne erscholl das mächtige Läuten einer Kirchenglocke. Menschenmassen strömten aus ihren Häusern, schwärmten aus wie Fliegen dem Scheißhaufen entgegen, setzten sich nieder, asten.
Ein einbeiniger Soldat aus einem längst vergessenen Krieg schlug morsche Wirbel auf seiner Trommel. Die Fliegen tanzten, tanzten im manisch-drohenden Rhythmus des Krüppels.
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In einen feuerroten Talar gehüllt vollzog der hintertriebene Priester die Umkehrung seiner Ideale. Mit eisiger Hand löschte er die Kerzen auf dem Gott geweihten Altar und sagte dabei die furchtbaren Worte SATANAS REGNUM. Satanas Regnum.
Diese Worte der Blasphemie beendeten mein Zittern. Aufgebracht wollte ich losstürmen, den Lästerer des Höchsten zu erdrosseln, wie es stand geschrieben in dem Buch von einst und damals - und es begleitete mich auf all meinen irren Wegen, so unergründbar sie auch waren. Sie waren sein.
Nein, ich durfte nicht, war gefesselt in meiner verblassenden Befreiung von allen Schranken, mußte liegenbleiben, spürte das Vertraute, das lang Geliebte zurückkehren in meine eigene Realität voller Zucker und Serotonin. Meine Realität ?
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Versiegt waren die Tränen, getrocknet, das Salz auf der Haut geblieben. Ein Schimmer der Hoffnung setzte sich freundlich auf ihr Gesicht. In ihren Armen wiegte sie den kleinen Pepé in einen tiefen Schlummer. Wunden heilten durch Liebe, das Leben heilte die Liebe , der Tod belebte die Triebe.
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Ich stand auf und reichte dem Fotografen die Abzüge seiner Bilder, die er zu schießen geplant hatte. Stumm nickte er und machte sich geschwind auf seinem klapprigen Fahrrad davon.
Vom Wegrand pflückte ich eine graue Blume, die, als ich sie an meinen Mund hielt, lachend erleuchtete - in den wundersamsten Farben.
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Als der Bus an der Haltestelle anhielt, stieg sie mit Pepé in ihren Armen ein. Gutmütig zwinkerte der Busfahrer - und leise setzte sie sich neben mich. Sanft begann ich , ihre Wangen zu streicheln, küßte sie mit meinem trockenen Mund auf ihre sich verzehrenden Lippen ; und vorsichtig leckte ich das Salz aus ihrem Gesicht, schmeckte all den tiefen Schmerz, schluckte ihn herunter.
Aus der Luft griff ich die bunte Blume und hauchte mit heißem Atem in ihr linkes Ohr :
" Ich sag Dir alles ! ".
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